Sinuhe der Ägypter
ihn wohl in einer Mischung von Haß und Liebe geschaut – und zwar ein so mutiger Künstler, wie Ägypten noch nie einen besessen. Denn hätte einer zuvor ein solches Bildnis des Pharao zu schaffen gewagt: er wäre verstümmelt und als Lästerer an die Mauer gehängt worden.
Auch in diesem Tempel waren nur wenige Leute versammelt. Einige Männer und Frauen hielt ich wegen ihres königlichen Linnens, des schweren Kragens und der goldenen Geschmeide für Hofleute und Vornehme. Das gewöhnliche Volk lauschte dem Gesang der Priester stumm und mit verständnislosen Mienen; denn die Priester sangen neue Texte, und es wäre viel zu anstrengend gewesen, deren Bedeutung zu ergründen. Sie lauteten anders als die aus der Zeit der Pyramiden stammenden, durch ein paar Jahrtausende hindurch vererbten Gesänge, an deren Worte sich die Ohren der Frommen schon von Kindheit an gewöhnt hatten. Jene Texte erschienen bekannt und wurden vom Herzen verstanden, wobei es nicht auf die Bedeutung der Worte ankam, falls sie überhaupt noch etwas bedeuteten; denn sie waren, wie ich glaube, durch die unrichtige Wiederholung von Geschlecht zu Geschlecht und die oft fehlerhafte Wiedergabe durch Schreiberpriester völlig verändert und entstellt worden.
Wie dem auch sei: als der Gesang zu Ende war, trat ein alter Mann, seiner Kleidung nach ein Landmann, ehrfürchtig vor die Priester hin, um ein passendes Zaubergerät, ein Schutzauge oder einen Papyrusstreifen mit Zauberformeln zu erschwinglichem Preis zu erstehen. Die Priester aber erklärten ihm, es gebe in diesem Tempel nichts Derartiges zu kaufen, weil Aton keine Zauberei oder Papyri nötig habe, sondern sich jedem gläubigen Menschen auch ohne Opfer und Geschenke nähere. Als der Alte solches vernahm, wurde er sehr zornig und ging seines Weges, Schmähworte über derlei schwindelhafte Verrücktheiten vor sich hinmurmelnd; dann sah ich ihn die alte, wohlbekannte Pforte zum Ammontempel durchschreiten.
Ein Fischerweib ging auf die Priester zu, blickte ihnen andächtig in die Augen und fragte: »Opfert denn keiner dem Aton Böcke oder Ochsen, damit ihr etwas Fleisch zu essen bekommt, ihr armen, mageren Jungen? Wenn euer Gott doch so mächtig und stark ist, wie man behauptet, stärker sogar als Ammon, was ich zwar nicht glaube, so müßten seine Priester beleibt sein und von Fett glänzen. Ich bin nur eine einfache Frau und verstehe es nicht besser.«
Die Priester lachten und flüsterten miteinander wie schalkhafte Jungen, bis schließlich der älteste mit ernster Miene zu dem Weibe sprach: »Aton wünscht keine blutigen Opfer, und es schickt sich nicht, daß du in seinem Tempel von Ammon redest; denn Ammon ist ein falscher Gott, dessen Thron bald fallen und dessen Tempel bald einstürzen wird.« Die Frau zog sich rasch zurück und sagte, indem sie zu Boden spuckte und mit den Händen das heilige Zeichen Ammons machte: »Du hast es gesagt, nicht ich! Dich, nicht mich soll der Fluch treffen!« Sie lief eilends davon. Andere folgten ihr mit erschrockenem Blick nach den Priestern. Diese aber lachten laut und riefen ihnen im Chor nach: »Geht nur, ihr Kleingläubigen, aber Ammon ist und bleibt ein falscher Gott. Er ist ein Abgott und seine Macht wird dahinsinken wie Gras unter der Sichel!« Da nahm einer der Abziehenden einen Stein vom Boden, zielte und traf einen der Priester auf den Mund, aus dem das Blut zu sickern begann. Der Priester bedeckte sich das Gesicht mit den Händen und jammerte bitterlich, die übrigen riefen nach den Wächtern; doch der Angreifer hatte bereits die Flucht ergriffen und war im Menschengewimmel vor den Pylonen des Ammontempels untergetaucht.
Dies alles gab mir viel zu denken, weshalb ich mich an die Priester wandte und fragte: »Ich bin zwar ein Ägypter, aber ich habe lange in Syrien gewohnt und kenne den neuen Gott, den ihr Aton nennt, nicht. Wollt ihr nicht meine Unwissenheit aufklären und mir sagen, wer er ist, was er fordert und wie ihm gehuldigt wird?«
Sie zögerten, indem sie vergeblich einen höhnischen Ausdruck in meinem Gesicht suchten, und sagten schließlich: »Aton ist der alleinige Gott. Er hat die Erde und den Strom, die Menschen, die Tiere und überhaupt alles, was sich auf Erden befindet und bewegt, geschaffen. Er ist immer dagewesen, und die Menschen haben ihn in seinen früheren Offenbarungsformen als Rê angebetet. In unseren Tagen aber hat er sich seinem Sohn, dem Pharao, der nur von der Wahrheit lebt, als Aton offenbart. Seitdem ist er der
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