Sinuhe der Ägypter
nachdem sie so vollgefressen waren, daß sie nicht mehr in ihre Berge zurückzufliegen vermochten.
Vielleicht war es ein Mißgriff gewesen, mit Streifen bemalte Neger der Sänfte des Pharao folgen zu lassen, denn ihr bloßer Anblick erregte den Zorn des Volkes. In dem Menschenhaufen befanden sich nämlich nicht viele, die nicht in den vergangenen Tagen irgendeinen Schaden erlitten hatten. Viele hatten ihr Heim durch Feuer verloren, die Tränen der Frauen waren noch nicht getrocknet, die Wunden der Männer brannten noch unter den Binden, und kein Lächeln huschte um die zerschlagenen Münder. Jedenfalls thronte der Pharao Echnaton, in seiner Sänfte schaukelnd, hoch über dem Volke, so daß er von allen gesehen wurde. Auf dem Haupte trug er die vereinten Kronen der beiden Länder, die Lilienkrone und die Papyruskrone, die Krone des Oberen und des Unteren Landes, und er hielt die Arme über der Brust gekreuzt und in den Händen den Krummstab und die königliche Peitsche fest umklammert. Unbeweglich wie ein Götterbildnis saß er da, wie die Pharaonen zu allen Zeiten vor dem Volke zu sitzen pflegten; und als er erschien, war alles erschreckend still, als hätte sein bloßer Anblick die Kehlen des Volkes verstummen lassen. Aber die Soldaten, die die Widderstraße bewachten, streckten vor ihm ihre Speere hoch und riefen ihm einen Gruß zu, in den auch die Vornehmen und Reichen einstimmten, während sie Blumen vor die Sänfte warfen. Aber in dem schrecklichen Schweigen der Volksmenge klangen ihre Rufe schwach und dünn, wie das Summen einer einsamen Mücke in der Winternacht, so daß sie bald genug schwiegen und sich erstaunt ansahen.
Gegen alle Sitten bewegte sich der Pharao, hob den Krummstab und die Peitsche in seinen Händen und grüßte das Volk mit warmem Gefallen. Die Menge wich zurück, und plötzlich brach ein Ruf aus aller Kehlen, erschreckend wie das Dröhnen sturmgepeitschter Meereswellen gegen die Strandklippen. Die Menge wogte hin und her und rief dumpf klagend: »Ammon! Ammon! Gib uns Ammon, den König aller Götter, wieder!« Die Massen wogten, und der Ruf schwoll immer mehr an, bis sich die Raben und Aasgeier vom Dach des Tempels zum Flug erhoben und auf dunklen Schwingen über die Sänfte flatterten. Und das Volk rief: »Weiche, falscher Pharao, weiche!«
Diese Rufe erschreckten die Träger so heftig, daß sie die Sänfte abstellten, aber als sie, auf Befehl der erregten Offiziere der Wache, von neuem vorwärtsstrebten, drang die Menge wie eine unwiderstehliche Flut in die Widderstraße vor, fegte die Kette der Soldaten weg und warf sich vor die Sänfte, um sie im Vorwärtskommen zu hindern. Und keiner konnte mehr klar die Ereignisse verfolgen; denn die Soldaten begannen mit ihren Stöcken und Keulen auf das Volk einzuhauen, um den Weg frei zu machen, aber bald genug mußten sie zur Verteidigung ihres Lebens zu Speeren und Messern greifen, Stöcke und Steine sausten durch die Luft, Blut strömte über das Pflaster der Widderstraße, und die gellenden Schreie der Sterbenden übertönten die dumpfen Rufe. Kein einziger Steinwurf aber richtete sich gegen den Pharao; denn er war, wie alle Pharaonen vor ihm, von der Sonne geboren, und deshalb war seine Person heilig und unantastbar. Kein einziger Mensch in der Menge hätte auch nur im Traum gewagt, die Hand gegen ihn zu erheben, obgleich alle ihn von Herzen haßten. Ich glaube, daß es sich nicht einmal die Priester getraut hätten. Ungestört konnte der Pharao daher von seinem erhabenen Thron die Ereignisse überblicken, und er erhob sich, um den Soldaten Einhalt zu gebieten, aber seine Rufe ertranken im Lärm der Massen.
Das Volk bewarf die Soldaten mit Steinen, und diese wehrten sich und töteten dabei manchen aus dem Volk, das ununterbrochen rief: »Ammon, Ammon, gib uns Ammon wieder!« Und weiterhin ertönte auch der Ruf: »Weiche, falscher Pharao, weiche, in Theben hast du nichts zu suchen!« Auch nach den Vornehmen warf man Steine und bedrängte sie mit drohenden Gebärden, daß die Damen die Blumen, die sie in den Händen hielten, wegwarfen, die Riechfläschchen fallen ließen und die Flucht ergriffen.
Da ließ Haremhab in die Hörner stoßen, und die Streitwagen kamen aus Höfen und Seitenstraßen gefahren, wo sie, um das Volk nicht zu reizen, versteckt gewesen waren. Die Streitwagen kamen dahergerasselt, und viele Menschen wurden unter Pferdehufen und Rädern zermalmt; aber Haremhab hatte die Sensen von den Seiten der Wagen entfernen lassen, um
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