Sinuhe der Ägypter
weil ich ebenso einsam bin wie du.«
Sie nahm die Weinschale aus meiner zitternden Hand, breitete mir ihre Schlafmatte aus, legte sich neben mich und wärmte meine kalten Finger in ihren warmen Händen. Ich berührte ihre glatten Wangen mit dem Munde und atmete den Zedernduft ihrer Haut ein und gab mich mit ihr der Liebe hin. Sie war mir wie Vater und Mutter und wie ein Feuerbecken, das einen Frierenden in der Winternacht wärmt, und wie ein Strandlicht, das dem Seemann in stürmischer Nacht den Heimweg zeigt. Als ich einschlief, war sie mir Minea; Minea, die ich für ewig verloren glaubte. Ich ruhte neben ihr, wie neben Minea auf dem Meeresboden, und hatte keine bösen Träume mehr, sondern schlief ruhig und tief, während sie mir Worte in die Ohren flüsterte, wie Mütter sie flüstern, wenn ihre Kinder sich vor dem Dunkel fürchten. Von dieser Nacht an war sie meine Geliebte, und aus ihrem Schoß empfing ich neue Kräfte und begann zu ahnen, daß es außerhalb meiner selbst und meines Wissens etwas gab, das größer war als ich und für das sich zu leben lohnte.
Am folgenden Morgen sagte ich zu ihr: »Merit, ich habe den Krug mit einer Frau zerbrochen, sie ist gestorben, und ich bewahre immer noch das Goldband, das einst ihr langes Haar zusammenhielt. Aber um unserer Freundschaft willen, Merit, ich bin bereit, den Krug mit dir zu zertrümmern, falls du es wünschst.«
Sie aber sagte: »Du darfst nie mehr einen ›Krokodilschwanz‹ trinken, Sinuhe, wenn du am Tag darauf solche Dummheiten zu reden beginnst. Bedenke, daß ich in einer Schenke aufgewachsen und nicht mehr ein unberührtes Mädchen bin, das deinen Worten Glauben entgegenbringen kann, um dann schwer enttäuscht und betrübt zu werden.«
»Wenn ich dir in die Augen blicke, Merit, glaube ich, daß es auch gute Frauen in der Welt gibt«, sagte ich und berührte ihre glatten Wangen mit dem Munde. »Ich habe es dir nur gesagt, damit du verstehen sollst, wieviel du mir bedeutest.«
Sie lächelte und meinte: »Du hast wohl gemerkt, daß ich dir verbot, weitere ›Krokodilschwänze‹ zu trinken; denn wenn eine Frau zeigen will, daß sie einen Mann liebhat, verbietet sie ihm zuerst etwas, um ihre Macht zu fühlen. Aber laß uns nicht von Krügen sprechen, Sinuhe! Du weißt, daß der Platz auf der Matte neben mir dir immer offensteht, wenn du einsam und niedergeschlagen bist. Aber fühle dich nicht beleidigt, Sinuhe, falls du einmal merken solltest, daß es in der Welt außer dir auch noch andere einsame und traurige Männer gibt; denn ich will dich in keiner Weise binden und als Mensch ebenso frei sein wie du.«
So seltsam ist des Menschen Sinn, und so wenig kannte auch ich mein Herz; denn meine Seele fühlte sich von jener Stunde an wieder frei und federleicht, und ich entsinne mich des Bösen, das in jenen Tagen geschah, nicht mehr.
4
Am folgenden Morgen holte ich Merit ab, um zusammen mit ihr den Festzug des Pharao zu bewundern, und in ihrem neumodischen Sommerkleid war sie ungemein schön, obgleich sie in einer Schenke aufgewachsen war, so daß ich mich ihrer nicht zu schämen brauchte, als ich in der Widderstraße an einem der Plätze für die Günstlinge des Pharao neben ihr stand.
So unberechenbar ist des Menschen Sinn und so sehr hatte mich die Wahrheit des Pharao geblendet, daß ich nichts Böses ahnte, obwohl die Gluthitze des Tages noch von dem Rauch schwelender Ruinen und von dem Leichengestank aus dem Strom durchzogen war. Denn die Widderstraße war mit bunten Wimpeln geschmückt, und unermeßliche Menschenscharen säumten sie, um den Pharao zu sehen; Knaben waren auf die Bäume der Anlagen geklettert, und Pepitaton hatte unzählige Blumenkörbe aufstellen lassen, damit das Volk der Sitte gemäß vor die Sänfte des Pharao Blumen streuen könne. Mein eigener Sinn war leicht und voller Sonnenglast, denn ich ahnte Freiheit und Licht für das Land Ägypten. Aus dem Hause des Pharao hatte ich einen goldenen Becher zum Geschenk erhalten und war zum königlichen Schädelbohrer ernannt worden. Neben mir stand eine schöne, reife Frau, die meine Freundin war und meinen Arm hielt, und rund um uns herum standen lauter frohe Menschen mit lächelnden Mienen, so daß ich die Gesichter des abseits stehenden Volkes nicht sehen konnte. Nur war alles ungewöhnlich still, so still, daß man das Krächzen der Raben auf dem Dachfirst des großen Tempels bis zur Widderstraße vernehmen konnte; denn Raben und Aasgeier hatten sich in Theben niedergelassen,
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