Sinuhe der Ägypter
ihretwegen an, wenn ich dir auch Tag und Nacht das Wörtlein schuldig, schuldig ins Gewissen hämmere. Tausende und aber Tausende haben deinetwegen sterben müssen, Sinuhe. An Hunger und Pest und Wunden, durch Waffen und unter den Rädern der Streitwagen sind sie gestorben und auf den Wüstenwegen verschmachtet. Deinetwegen sind Kinder im Mutterschoß gestorben und Stöcke auf gekrümmte Rücken niedergesaust; deinetwegen tritt das Unrecht die Gerechtigkeit mit Füßen, besiegt die Gier die Güte und wird die Welt von Räubern beherrscht. Wahrlich, Sinuhe, unzählige Menschen sind deinetwegen umgekommen! Ihre Hautfarbe und ihre Sprache sind verschieden; aber sie alle sind schuldlos gestorben, Sinuhe, weil sie dein Wissen nicht besaßen. Alle, die gestorben sind und noch sterben werden, sind deine Brüder und sterben deinetwegen, und du, Sinuhe, trägst allein die Schuld daran! Deshalb vernimmst du ihr Schluchzen in deinen Träumen, verderben dir ihre Tränen den Geschmack des Essens im Mund und vereitelt dir ihr Weinen jede Freude, Sinuhe.«
Ich war jedoch verstockt und sprach zu meinem Herzen: »Die Fische sind meine Brüder, weil sie keine eitlen Reden halten. Die Löwen der Wüste und die Wölfe der Wildnis sind meine Brüder, aber nicht der Mensch. Denn der Mensch weiß, was er tut.«
Mein Herz verhöhnte mich und sagte: »Weiß der Mensch wirklich, was er tut? Du weißt es wohl; denn du besitzest die Erkenntnis, und deshalb lasse ich dich bis zu deinem letzten Tag leiden, die übrigen aber wissen nichts. Deshalb bist du allein schuldig, Sinuhe.«
Da schrie ich auf, zerraufte mir die Kleider und sprach: »Verflucht sei all mein Wissen, meine Hände und meine Augen seien verflucht, noch weit mehr verflucht sei mein verrücktes Herz, das mir keinen Frieden gönnt, sondern mich mit erdichteten Anklagen quält! Bringt mir unverzüglich die Waage des Osiris, damit mein lügenhaftes Herz gewogen werde! Mögen seine vierzig gerechten Paviane ihr Urteil über mich fällen; denn ich traue ihnen mehr als meinem elenden Herzen!«
Muti kam eilends aus der Küche, tauchte ein Tuch in das Wasser des Teiches, wickelte es mir um den Kopf und kühlte mir die Stirn mit einem kalten Krug. Sie machte mir heftige Vorwürfe, brachte mich zu Bett und gab mir allerlei übelschmeckende Arzneien ein, bis ich mich beruhigte. Ich war lange krank. Während meiner Krankheit hörte ich mich zu Muti von der Waage des Osiris plappern, von einer Mehlwaage, die ich sie zu holen bat, von Merit und von dem kleinen Thoth. Sie pflegte mich treu, und ich glaube, es war für sie ein besonderer Spaß, mich im Bett halten und füttern zu dürfen. Sie verbot mir auch aufs strengste, je wieder in der Sonnenglut im Garten zu sitzen; denn mein inzwischen völlig kahl gewordener Schädel ertrug die giftigen Strahlen nicht mehr. Aber ich hatte gar nicht in der Sonne, sondern im kühlen Schatten der Sykomore gesessen und die Fische betrachtet, die meine Brüder waren, weil sie nicht sprechen konnten.
Allmählich besserte sich mein Zustand, und nach der Genesung ward ich ruhiger und friedliebender als zuvor und söhnte mich auch mit meinem Herzen aus, das mir fortan weniger Qualen bereitete. Ich erwähnte auch Merit und den kleinen Thoth vor Muti nicht mehr, sondern bewahrte sie in meinem Herzen, in dem Bewußtsein, daß sie hatten sterben müssen, damit mein Maß voll und ich einsam würde. Denn hätten sie bei mir geweilt, wäre ich glücklich und zufrieden gewesen und mein Herz verstummt. Nach dem mir bestimmten Maß mußte ich ein Einsamer bleiben und war daher schon in der Nacht meiner Geburt allein in einem Binsenboot den Strom hinabgeschwommen.
Nach meiner Genesung zog ich insgeheim das grobe Tuch der Armen an, legte die Sandalen ab und verließ das Haus des Kupferschmieds, um nicht mehr dorthin zurückzukehren. Ich begab mich in den Hafen und schleppte mit den anderen Trägern schwere Lasten, bis mir der Rücken weh tat und die Schultern sich krümmten. Ich ging zum Gemüsemarkt und nährte mich von faulenden Abfällen; dann ging ich auf den Kohlenmarkt und trat mit den Füßen die Blasebälge der Kohlenbrenner und der Schmiede. Ich arbeitete mit den Sklaven und Ausladern, aß von ihrem Brot, trank von ihrem Bier und sprach zu ihnen: »Es gibt keinen Unterschied zwischen den Menschen; denn jeder kommt nackt zur Welt, und das Herz ist der einzige Maßstab für die Menschen. Ein Mensch kann nicht nach seiner Hautfarbe oder seiner Sprache, nach seinen
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