Sinuhe der Ägypter
Kleidern oder seinem Schmuck, nach seinem Reichtum oder seiner Armut gemessen werden, sondern einzig und allein nach seinem Herzen. Deshalb ist ein guter Mensch mehr wert als ein böser und Gerechtigkeit besser als Ungerechtigkeit. Das ist alles, was ich weiß.«
So sprach ich in der Abenddämmerung zu den Leuten vor den Lehmhütten, während die Frauen ihre Kochfeuer auf der Straße anzündeten und der Geruch gebratener Fische in die Lüfte stieg und das Armenviertel erfüllte. Sie lachten über mich und meinten: »Du bist verrückt, Sinuhe, Sklavenarbeit auszuführen, da du doch des Lesens und Schreibens kundig bist! Sicherlich hast du dich an einem Verbrechen beteiligt und willst dich bei uns verstecken; aus deiner Rede spricht ein Hauch des Atons, dessen Namen wir nicht nennen dürfen. Doch werden wir dich den Wächtern nicht verraten, sondern behalten dich bei uns, damit du uns mit deinem tollen Geschwätz belustigst. Hoffentlich aber vergleichst du uns nicht etwa mit schmutzigen Syriern und elenden Negern; denn wenn wir auch bloß Sklaven und Träger sind, so sind wir doch Ägypter und als solche stolz auf unsere Hautfarbe uns unsere Sprache, auf unsere Vergangenheit uns unsere Zukunft.«
Ich erwiderte: »Eure Rede ist unklug! Denn solange ein Mensch auf sich selbst stolz ist und sich für mehr als andere hält, werden Fesseln und Stockhiebe, Speere und Raben in der Spur des Menschen folgen. Deshalb soll ein Mensch nur nach seinem Herzen gewogen werden. Alle Menschenherzen sind im Werte gleich; keines ist besser als das andere, weil alle Tränen, die der Schwarzen und die der Braunen, die der Syrier und die der Neger, die der Armen und die der Reichen, vom gleichen Wasser und gleich salzig sind.«
Sie aber lachten laut über mich, schlugen sich auf die Knie und sagten: »Wahrlich, du bist ein verrückter Kerl und hast gewiß nichts vom Leben gesehen, sondern bist in einem Sack aufgewachsen. Ein Mensch kann nicht leben, ohne sich einem anderen überlegen zu fühlen; und kein Mensch ist so erbärmlich, daß er sich nicht in irgendeiner Beziehung für besser hält, als ein anderer es ist. Einer ist stolz auf die Gewandtheit seiner Finger, ein anderer auf die Stärke seiner Schultern, der Dieb ist stolz auf seine Schlauheit, der Richter auf seine Weisheit, der Geizige auf seinen Sparsinn, der Verschwender auf seine Großzügigkeit, die Gattin auf ihre Tugend, das Freudenmädchen auf seine Freiheit von Vorurteilen. Nichts bereitet dem Menschen größere Befriedigung als das Bewußtsein, einen anderen irgendwie zu übertrumpfen. Deshalb sind wir auch ungemein zufrieden, klüger und durchtriebener zu sein als du, obwohl wir bloß arme Leute und Sklaven sind, während du des Lesens und Schreibens kundig bist.«
Ich antwortete: »Und doch ist ein guter Mensch besser als ein böser und Gerechtigkeit besser als Ungerechtigkeit.«
Aber wie wandten erbittert ein: »Was ist Güte, und was ist Bosheit? Wenn wir einen schlechten Herrn umbringen, der uns mit seinem Stock quält, die Nahrung stiehlt und unsere Frauen und Kinder hungern läßt, so ist das eine gute Tat! Dennoch schleppen uns die Wächter vor die Richter des Pharao, schneiden uns Ohren und Nase ab und hängen uns mit dem Kopf nach unten an die Mauer. Das ist Gerechtigkeit; doch kommt es darauf an, mit welchen Gewichten gewogen wird! Denn oft genug ist sie nichts anderes als Ungerechtigkeit, weil wir nicht unsere Gewichte in die Waagschale legen dürfen und diejenigen der königlichen Richter von den unsrigen abweichen.«
Sie gaben mir gebratene Fische zu essen, und ich trank von ihrem dünnen Bier und sagte: »Der Totschlag ist das niedrigste Verbrechen, das ein Mensch begehen kann, und es ist ebenso gemein, um einer guten wie um einer bösen Sache willen zu töten; denn einen Menschen soll man nicht umbringen, sondern von seiner Bosheit heilen.«
Da legten sie die Hände vor den Mund, blickten um sich und riefen: »Wir wollen ja niemand umbringen! Peitsche und Stock haben uns so unterwürfig gemacht, daß wir alle Fußtritte und Demütigungen und Kränkungen hinnehmen, ohne deshalb jemand zu töten. Wenn du aber die Menschen von ihrer Bosheit heilen und Gerechtigkeit an Stelle der Ungerechtigkeit setzen willst, tust du wahrlich besser daran, dich an die Vornehmen und Reichen und Richter zu wenden und mit diesen darüber zu sprechen! Denn unseres Erachtens findest du bei ihnen mehr Bosheit und Ungerechtigkeit als bei uns.« So sprachen sie, lachten,
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