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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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eine brutale Beleidigung. Später, zu Hause, im Bett, oder unter der Dusche, die sie nehmen wird, sobald sie ankommt, wird sie den Schrei ausstoßen können, der ihr jetzt in der Kehle steckenbleibt, wird sie die Tränen laufen lassen können, die jetzt nicht über den Rand ihrer Augen treten.
    Niemand sonst kommt jetzt auf die Toilette, und es würde auch nichts nützen. Herr Biasutto ist derjenige, der hier das Sagen hat. Er hat seinen Finger in sie hineingebohrt. Bis zum Anschlag, und da läßt er ihn: In ihr drin. Plötzlich stöhnt er auf. Er, Herr Biasutto, stöhnt, ein hoher, dünner Ton, der nicht aus seinem Mund zu dringen scheint. Das macht er aber: Er dringt aus seinem verzogenen, speichelglänzenden Mund. Seine Zähne sind in einem schlechten Zustand. Von dorther dringt das Stöhnen, als empfände er den Schmerz, und nicht sie, als wollte er sich ihren Schmerz zu eigen machen, als bemächtigte er sich des schmerzlichen Ausdrucks, der ihr untersagt ist. Er stöhnt und winselt, sie nimmt ihren Mut zusammen und betrachtet ihn aus dem Augenwinkel, sie nutzt die Gelegenheit, daß er ein wenig die Herrschaft über sich verliert, sie sieht, daß sich sein Ausdruck zu einer weinerlichen Miene verzerrt, sie sieht, daß sich auf seinem Gesicht ein seltsamer Schmerz abzeichnet. Es verzieht sich, glänzt vor Schweiß. Der Schnurrbart ist bloß noch ein Kratzer, ein schmaler Streifen schwarzes Blut über dem triefenden Mund. Die Augen sind nicht geschlossen, lassen ihn in diesem Moment aber nichts mehr erkennen. María Teresa betrachtet sie und sieht, daß sie zu nichts zu gebrauchen sind.
    Der Finger in ihr zwingt sie, sich ganz ruhig zu verhalten.Wenn sie sich bewegt, tut es nur noch mehr weh. Wie lange soll das noch so gehen? fragt sie sich, wo soll das alles enden? Wie es normalerweise ausgeht, weiß sie von ihrem Bruder. Aber das hier, so wie es sich abspielt, wann soll das je zu Ende sein? Zahllose kaum zu deutende Zeichen gehen von Herrn Biasutto aus. Die Grimassen, die einander auf seinem Gesicht ablösen, scheinen zumeist von Schmerz zu künden. María Teresa beobachtet ihn und wartet und beißt sich dabei auf einen Finger, um es irgendwie zu überstehen. Kalt ist ihr nicht mehr.
    Die automatische Spülung der Pissoirs wird ausgelöst. Man hört, wie das Wasser rauscht, hinabläuft, unten zusammenströmt. Die Spülung wird ausgelöst, obwohl niemand davorsteht, sie erfüllt aber dennoch eine Aufgabe: Es werden Reste weggeschwemmt. Ihre Tätigkeit dient in diesem Moment aber noch einem anderen Zweck, der von niemandem vorhergesehen und erst recht nicht beabsichtigt worden ist. Sie liefert María Teresa eine – durchaus tröstliche – Bestätigung der Tatsache, daß es die Welt dort draußen noch gibt, daß sie weiterbesteht, daß sie dorthin wird zurückkehren können, daß das, was ihr gerade passiert, diese Welt nicht auslöscht und nicht alles ist.
    Endlich entspannt sich Herr Biasutto (seine Gesichtszüge entspannen sich, der ganze Herr Biasutto entspannt sich), und er beschließt, den Finger herauszuziehen. Das macht er jetzt mit einem Ruck – was er bereits vorhin machen zu wollen schien, da aber nur halb ausführte. Es tut sehr weh, mehr als zuvor, so weh wie noch nie. Es tut weh. María Teresa stöhnt zum ersten und einzigen Mal auf, aber nur ganz kurz und leise. Herrn Biasuttos Finger ist jetzt draußen, außerhalb von ihr. So als gehörte er jetztwieder zur Hand seines Besitzers – ein Hund, den jemand von der Leine gelassen hat und der sich nun, müde von dem ausgeführten Angriff, zur Meute zurückgesellt.
    María Teresa spürt anfängliche Erleichterung, erschrickt aber sogleich und fragt sich, ob sie sich den Luxus dieser Erleichterung überhaupt leisten kann. Wer weiß, ob nicht als nächstes Herrn Biasuttos schreckliches Ding zum Einsatz kommt. Er ist der Oberaufseher. Sie wird nicht schreien können. Vielleicht macht Herr Biasutto jetzt, wo sie schon glaubt, mit dem Schmerz und der Schande sei es erst einmal vorbei, vielleicht macht er da gerade jetzt weiter, und das auch noch mit seinem grauenvollen Ding. Dann wäre dies keineswegs das Ende, sondern im Gegenteil erst der Anfang.
    Aber Herrn Biasuttos Ding ist immer noch so teilnahmslos wie zu Beginn. Das Ding, vor dem sie solche Angst hat, schwillt nicht an, ist nicht angeschwollen, zeigt sich nicht, beteiligt sich nicht. Jetzt, wo er den Rückzug angetreten hat, macht Herr Biasutto einen reichlich verwirrten Eindruck, offensichtlich geht

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