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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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Aufseher mit einer Handbewegung: Marcelo, Leonardo. Und María Teresa. Kurz, aber herzlich. Dann geht er fort, durch die Tür, durch die er gekommen war.
    Es ist der zweite Tag, an dem sie nicht auf die Knabentoilette geht, auch nicht in deren Nähe. Während der Pausen kümmert sie sich um den Bereich rund um das Treppenhaus, der auf der anderen Seite liegt. Außerdem paßt sie auf, daß kein Schüler im Klassenzimmer bleibt. (Das ist die neueste Spinnerei einiger Schüler: Sie behaupten, sie wollen in der Pause nicht hinausgehen. Es ist aber verboten,sich in dieser Zeit im Klassenzimmer aufzuhalten. Die Schüler haben in der Pause hinauszugehen, das ist Vorschrift.) Mit ihren Kollegen unterhält sie sich jetzt ein wenig mehr als sonst. Sie halten sie für schüchtern, nicht zu Unrecht. Sie ist wirklich schüchtern, ja, es kostet sie Überwindung, sich zu öffnen und mit den anderen zu sprechen. Doch inzwischen bringt sie wieder mehr Zeit im Aufseherzimmer zu, und dadurch nimmt ihr Austausch mit den anderen wie von selbst zu. In der letzten Zeit haben die Aufseher nicht allzuviel zu tun. Während der eigentlichen Unterrichtszeit steht ihnen ziemlich viel unausgefüllte Zeit zur Verfügung. Diejenigen, die noch im Studium sind, nutzen diese Zeit eben dafür: um zu studieren. Die meisten sind in Jura eingeschrieben, manche in Ingenieurswesen. María Teresa sieht ihnen dabei zu, wie sie sich mit glühenden Ohren eifrig über die dicken Wälzer beugen, die sie den ganzen Tag mit sich herumschleppen. Die anderen unterhalten sich, meistens über Dinge, die mit dem Colegio zu tun haben; die männlichen Kollegen sind in diesen Tagen allerdings auch sehr mit dem Thema Fußball beschäftigt (ihr Optimismus wirkt zuletzt aber auch ansteckend auf die Frauen: Als Argentinier sind sie sicher, daß das Weltmeisterteam von 78, verstärkt durch Ramón Díaz und Diego Maradona, auch diesmal wieder den Titel holen wird).
    María Teresa folgt den Unterhaltungen ihrer Kollegen, nur selten jedoch trägt sie selbst etwas dazu bei. Sie nickt lächelnd zu den Äußerungen der anderen, um zu zeigen, daß sie sehr wohl Notiz davon nimmt. Außerdem hofft sie, Herr Biasutto möge nicht im Aufseherzimmer erscheinen. So, in Begleitung der anderen, fühlt sie sich in jedem Fall besser. Herr Biasutto ist aber der Oberaufseher, alsoerscheint er letztlich doch irgendwann. Mit geschäftiger Miene geht er drei oder vier zu erledigende Angelegenheiten durch (Weiterleitung der beantragten Schülerstrafen an den Studienleiter, Rückgabe der Schlüssel für den Filmvorführraum an den Hausmeister, Abzeichnung der Schulkreidenbestellung), sagt leise ein paar Dinge zu Marcelo, kontrolliert die Anwesenheits- und die Verspätungslisten. María Teresa hat den Eindruck, daß er sie ein wenig belauert. Sein scheinbar planloses Umherlaufen im Lehrerzimmer hat durchaus ein Ziel. Es kommt ihr so vor, als beobachtete er sie. Ob es wirklich so ist, will sie lieber nicht herausfinden, weshalb sie sich in den Notenspiegel vertieft, mit dem sie schon seit einer Weile beschäftigt war. Herr Biasutto geht schließlich fort.
    Während der Pausen bemüht sie sich, nicht alleine zu sein, was jedoch den Verhaltensregeln der Aufseher widerspricht, die ja das Treiben auf den Gängen möglichst erschöpfend im Blick haben sollen. Herr Biasutto ist ständig in ihrer Umgebung unterwegs. Offensichtlich in der Absicht, sich ihr zu nähern – ebenso offensichtlich weiß er allerdings nicht so recht, wie. Manchmal sieht er sie aus der Ferne an. In der Mitte der dritten Pause kommt er auf einmal auf sie zu, aber sie entdeckt gerade noch rechtzeitig einen Jungen aus der achten oder neunten – ist auch egal – Obertertia, der unter dem Knoten seiner blauen Krawatte den obersten Hemdknopf aufgemacht hat; sie nutzt die Gelegenheit und geht sofort zu ihm, um ihn zu ermahnen. Sie bleibt neben ihm stehen, bis die Regelwidrigkeit behoben ist. Sie sieht zu, wie der Schüler den Knoten lockert, ihn ein Stück nach unten schiebt, mit zwei Fingern den Hemdknopf ergreift, ihn durchs Knopfloch bugsiert, den Krawattenknoten wieder hinaufschiebt,ihn festzieht und zurechtrückt. Herr Biasutto ist mittlerweile verschwunden.
    Nächster Tag. Die Tage verstreichen ziemlich langsam. María Teresa benutzt – logischerweise – wieder die Aufseherinnentoilette. Die ist kleiner und besser ausgestattet, hier gibt es ein Handtuch, und das Toilettenpapier ist auch nicht von der allerbilligsten Sorte. Die Türe

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