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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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Kabine. Er lächelt, allerdings ein wenig bemüht.
    »Man könnte denken, Sie träumen davon, mal richtig Wache zu schieben, wie ein Mann.«
    María Teresa versteht nicht so recht, was Herr Biasutto da gerade gesagt hat, es scheint ihr aber besser, es einfach hinzunehmen und ihm zuzustimmen, statt um eine genauere Erklärung zu bitten.
    »Ich tue nur meine Pflicht.«
    Herr Biasutto nickt mit huldvoller Miene zu ihren Worten, gleich darauf legt sich sein Gesicht aber auf seltsame Weise in Falten; und ein unerwartetes Zittern an Augenbrauen oder Stirn setzt ein. Zuletzt lächelt er wieder, wie um sich von der plötzlichen Anspannung zu befreien, während die Schultern unter dem Jackett von krampfartigen Zuckungen erfaßt werden. Und dann macht er, endlich entschlossen und ohne um Erlaubnis zu fragen (das hat er nicht nötig: er ist der Oberaufseher), einen weiten Schritt nach vorn, so weit, daß er als Stelzschritt durchgehenkönnte, und damit steht er im Inneren der Kabine. María Teresa vermutet, daß dies als Ablösung zu verstehen ist: Herrn Biasutto ist so sehr an der Untersuchung gelegen, die sie eingeleitet hat, daß er hier erschienen ist, um ihre Aufgabe eine Zeitlang zu übernehmen und ihr die Sache damit ein wenig zu erleichtern. Folglich schickt sie sich an, nicht nur die Kabine, sondern überhaupt die Toilette zu verlassen; sie setzt ihrerseits zu einem Schritt an, der weder überhastet noch zögerlich wirken soll.
    Doch mit einer Bewegung, die letztlich ganz einfach auszuführen ist, schließt Herr Biasutto jetzt die Tür. Er schließt die Tür und legt gleich darauf den Riegel vor. Nun sind die beiden, sie und er, die Aufseherin María Teresa und der Oberaufseher Herr Biasutto, in einer Kabine der Knabentoilette des Colegio eingeschlossen. Für zwei Personen ist es hier unbestreitbar eng. Der Platz ist knapp, vor allem, wenn man bedenkt, daß keiner von beiden auf das Keramikelement – auch wenn es in diesem Fall nicht besonders schmutzig ist – treten möchte. Man ist sich nahe, unweigerlich, viel zu nahe. Der dichte schmale Schnurrbart von Herrn Biasutto, den María Teresa noch nie so gut hat sehen können, scheint sich verselbständigt zu haben. Sie preßt sich an die Wand, aber es ist nicht anders als in dem Durchgang zwischen den Regalen eines Archivs oder einer Bibliothek: Der größtmögliche Abstand, der sich hier erzielen läßt, kommt immer noch einer übermäßigen Nähe gleich. Herr Biasutto ist nicht besonders groß, im Gegenteil, er ist nicht größer als María Teresa oder wenn, dann nur sehr wenig. Trotzdem sieht sie ihn jetzt von unten her an. Er lächelt. Sein Mund glänzt beim Lächeln, was nur vom Speichel kommen kann. Diesmal sind auch seine Zähne zu sehen, einkleiner Teil davon: kein schöner Anblick. María Teresa versucht zurückzulächeln, aber vergeblich. Gelänge es ihr, die Lähmung abzuschütteln, die die Angst in ihr ausgelöst hat, würde sie wohl eher weinen als lächeln.
    Sie hat keine Ahnung, was hier und jetzt mit Herrn Biasutto geschehen wird. Eines ist gewiß, auch wenn die Einsicht schmerzt: Es hat jedenfalls nichts mit ihrer Absicht zu tun, die Schüler zu überführen, die gegen die Vorschriften des Colegio verstoßen. Das hier ist etwas anderes. Was genau, weiß María Teresa nicht, sie weiß nur, daß es etwas anderes ist. Herr Biasutto zeigt sich weiterhin ruhig und gefaßt: Die Pomade ist perfekt verteilt, der Krawattenknoten sitzt, der Hemdkragen weist nicht eine Falte auf, die Jackenaufschläge nicht einen Fleck. Trotzdem scheint er völlig außer Fassung zu sein. María Teresa versucht sich zu beruhigen, indem sie im Geiste durchgeht, was sie über Herrn Biasutto weiß: Er ist der Oberaufseher des Colegio, er genießt in der Einrichtung einen denkbar guten Ruf, er ist eine wirkliche Autorität, Frauen gegenüber benimmt er sich wie ein richtiger Gentleman, das hat sie selbst erlebt. Das weiß sie und das sagt sie sich, und trotzdem beruhigt es sie nicht.
    Herr Biasutto streckt die Arme aus und zieht an seinen Hemdsärmeln. Dann öffnet er den Jackenknopf. Das ist alles: Ein Knopf wandert durchs Knopfloch. Die Jacke geht auf und gibt den Blick auf ein weißes Hemd frei, das ohne Pullover auskommen muß. Das ist alles. Manche Menschen frieren nie. Manche Männer knöpfen sich nie die Jacke zu. Herr Biasutto könnte nun entspannter wirken, besser auf die räumliche Enge eingestellt. Aber dem ist nicht so. Statt dessen zieht er weiter an seinen Hemdsärmeln,

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