Sittenlehre
es ihm schlechter als zuvor, jedenfalls sieht es nicht so aus, als wäre von ihm in diesem Zustand irgendeine Art von Initiative zu erwarten. Sein bis gerade eben abwesender Blick nimmt langsam wieder Kontakt zur Außenwelt auf. Dabei trifft er unversehens auf den Blick María Teresas, die sich umgedreht hat und ihm wieder ins Gesicht sieht. Herr Biasutto runzelt die Stirn – schon wieder eine neue Grimasse – und lacht im Schutz einer vorgetäuschten Geistesschwäche. Vielleicht ist sie das aber gar nicht – vielleicht tritt hier bloß für eine Sekunde eine verborgene Wahrheit zutage. Letztlich spielt es auch keine Rolle: Herr Biasutto löst sich nämlich in Luft auf. Wortlosschickt er sich an, in gebückter Haltung die Kabine zu verlassen. Er kämpft ein Weilchen mit dem Riegel, seine Hand rutscht ab, die Finger verhaspeln sich. Endlich hat er es geschafft, er öffnet die Tür, läßt María Teresa hinter sich zurück. Sie zieht hastig den Schlüpfer hoch und den Rest ihrer Kleidung zurecht. Solange er nicht draußen ist, wird sie die Toilette nicht verlassen. Und er wird keinesfalls zusammen mit ihr hinausgehen.
Herr Biasutto knöpft sich die Jacke zu, sein Oberkörper biegt sich dabei wenig anmutig bald in die eine, bald die andere Richtung. Er nimmt wieder die Haltung eines Oberaufsehers an. Sein Gesicht gewinnt die gleichmäßigen Züge eines Menschen im Besitz von Autorität wieder. Mit lautem Hackenknallen, fast so, als würde er marschieren, als übte auch er für die Parade zu Ehren von Manuel Belgrano, verläßt er die Toilette. Er stößt die Schwingtür mit solchem Elan auf, daß es länger als gewöhnlich dauert, bis die Flügel wieder stillstehen und das dazugehörige Quietschen verstummt. Man hört, wie er sich auf dem Gang entfernt.
Die Hände hat er sich nicht gewaschen.
Sittenlehre
María Teresa sucht die Knabentoilette des Colegio nicht mehr auf. Sie geht nicht mehr hin. Fleißig und gewissenhaft wie immer erfüllt sie ihre Aufgabe als Aufseherin. Einen ganzen Tag lang betritt sie die Knabentoilette nicht, aber nicht nur das, sie denkt auch keine Sekunde lang an diese Angelegenheit. Als sie zum erstenmal ihre Besuche dort einstellte, war sie sich dessen die ganze Zeit über bewußt; so ist es jetzt nicht. Jetzt verzichtet sie auf alles: darauf, zu machen, was sie bis dahin gemacht hat, aber ebenso auf jeden Gedanken daran. Auch wenn sie es sich nicht eingesteht, ihr Bestreben ist es, die Vergangenheit zu verändern, das, was geschehen ist, ungeschehen zu machen. Daß es nicht mehr geschieht, daß es nicht mehr geschehen wird, reicht ihr nicht; für sie kommt es darauf an, daß es gar nicht geschehen ist. Deshalb meidet sie den Abschnitt des Gangs, wo die Toiletten sind, und versucht der massiven Gegenwart von Herrn Biasutto möglichst auszuweichen.
Am nächsten Tag steht für die zehnte Obertertia Marschierenüben im Innenhof auf dem Programm, auf der Seite, wo die Bibliothek ist. María Teresa zieht sich warm an, bevor sie hinausgeht, um sicherzustellen, daß alles regelkonform verläuft; sie trägt eine Weste aus ungefärbter Wolle, die die Mutter ihr zu Anfang des Jahres gestrickt hat. Zwei Parallelklassen sind mit von der Partie: die achte und die neunte Obertertia. Deren Aufseher, Marcelobeziehungsweise Leonardo, kommen auch auf den Hof hinaus, wechseln ein paar Worte mit ihr, was eben gerade so ansteht, und überwachen derweil mit ausdruckslosem Gesicht die Aktivitäten der Schüler.
Womit diese am meisten zu kämpfen haben, ist ihre Neigung, unweigerlich mit den Knien einzuknicken, bei jedem Schritt. So wie man es eben macht, wenn man geht, aber nicht, wenn man marschieren soll. Beim Marschieren muß man so tun, als hätten Kalkablagerungen einem Meniskus und Kniescheibe ruiniert, und das Bein steif durchgestreckt vorwärts und rückwärts bewegen.
»Herrschaften, das ist doch kein Spaziergang! Wir marschieren hier!«
Herrn Vivots Stimme ist die Verzweiflung anzumerken, auch wenn sie durchs Megaphon verstärkt einigermaßen unpersönlich klingt. Die Beine müssen – mit vollständig durchgedrücktem Knie – nicht bloß nach vorne, sondern auch ein wenig nach oben geführt werden, was den Schülern ebenfalls Schwierigkeiten bereitet (vor allem den Mädchen), neigen sie doch dazu, sich hier wie im Alltag anzustellen, statt zu begreifen, daß dies eine Übung ist, mit deren Hilfe sie eine neue Fähigkeit erwerben sollen.
»Herrschaften, wir sind hier nicht im Park, das ist eine
Weitere Kostenlose Bücher