Suendiger Hauch
1
Leise glitt Lady Grayson in die Schatten hinter der Tür des alten Stallgebäudes. Ihr zerrissenes, schmutziges Nachtgewand bot kaum Schutz vor der nächtlichen Kälte, und sie fröstelte, während sich das Stroh auf dem kalten, verdreckten Boden schmerzhaft in die Sohlen ihrer bloßen Füße bohrte. An der Vorderseite des Stalls sah sie einen dürren, sommersprossigen Stallburschen und das schimmernde Schwarz eines kostbaren Reisegepäcks.
Sie bewegte sich noch ein Stück weiter in Richtung Tür und erkannte, dass die Kutsche zur Abfahrt bereit war. Sie trug das vergoldete Wappen eines Aristokraten - den Kopf eines Wolfes über einem silbernen Schwert. Während sie der Unterhaltung der beiden Lakaien mit dem Kutscher lauschte, die ein wenig abseits standen, begann ihr Herz heftig zu pochen. Die Kutsche würde nicht nach London fahren, sondern sie befand sich auf dem Weg zurück ins Landesinnere. Lieber Gott, die Kutsche verließ die Stadt! Sie würde sicher sein, wenn sich nur ein Platz zum Verstecken darin fände!
Ihr Atem beschleunigte sich vor Aufregung und bildete kleine Wölkchen in der kalten Morgenluft. Sie musste fort von hier, je schneller desto besser, und die Kutsche bot ihr die ideale Gelegenheit dazu.
Sie beobachtete die noble, auf Hochglanz polierte Karosse noch einen Augenblick lang, während sich langsam ein wildes Gefühl der Hoffnung in ihr ausbreitete. Der Kutschkasten am hinteren Teil, wo während der Fahrt das Gepäck aufbewahrt wurde, müsste ihr Sicherheit bieten - falls er genügend Platz für sie bot. Sie betete, dass dies der Fall war, und tat ein paar tiefe, regelmäßige Atemzüge, um das Zittern ihres Körpers zu beruhigen, während sie sich anschickte, zur Kutsche zu gelangen, bevor die Lakaien wieder an ihren Platz zurückkehrten. Just als sie hörte, wie die Männer lachend ihre Aufmerksamkeit auf die beiden bellenden Hunde richteten, lief sie zur Rückseite der Kutsche. Ihr langes, dunkles Haar fiel in wilden Locken um ihre Schultern, während sich ihre bloßen Füße eilig über den matschigen Boden bewegten. Mit einem Satz sprang sie über die lederne Abdeckung, kletterte in den Kasten und kauerte sich zwischen die Koffer und Taschen. Sie sandte ein stummes Stoßgebet gen Himmel, dass keine weiteren Gepäckstücke vor der Abfahrt hinzukommen würden. Einige Sekunden vergingen. Ihr Puls schlug in ihren Ohren. Obwohl es ein kühler Morgen war, bildeten sich Schweißperlen an ihrem Haaransatz und rollten an ihren Schläfen herab. Sie hörte die Männer näher kommen und ihre Plätze auf dem Kutschbock einnehmen, dann spürte sie, wie das Gefährt unter ihrem Gewicht schwankte und ruckte. Schließlich setzten sich die vier Rappen in Bewegung, und die Kutsche rollte auf die Vorderseite des Gasthofes zu.
Dort kam sie für einen Augenblick zum Stehen, um ihren einzigen Fahrgast aufzunehmen, der es sich auf den ledernen Polstern im Inneren bequem machte, bevor der Kutscher das Gespann mit der Peitsche antrieb und sie losfuhren. In der Sicherheit des Kutschkastens erlaubte sich Kathryn einen tiefen Seufzer der Erleichterung und ließ ihren erschöpften Körper gegen das schwarze, lackierte Holz sinken. Sie war so müde, so schrecklich, unendlich müde. Die Nacht hatte sie angestrengt. Sie war gelaufen, meilenweit gegangen in nichts als ihrem schmutzigen Nachthemd, mit schmerzenden, zerschundenen, blutigen Füßen und in steter Sorge, dass sie sie finden
würden. Als sie schließlich stolpernd auf eine Straße gelangt war und das efeubewachsene Gasthaus erblickt hatte, hatte sie ein leises Dankesgebet gesprochen und sich auf den Weg zum Stall auf der Rückseite gemacht.
Nachdem sie völlig erschöpft auf dem Stroh eingeschlafen war, hatte sie das Klirren des Pferdegeschirrs und das Wiehern der Pferde beim Anspannen einige Stunden später geweckt. Binnen Sekunden war Kathryn klar geworden, dass dies ihre einzige wirkliche Chance zur Flucht war. Jetzt, während die Kälte des anbrechenden Tages zu schwinden begann und sich das Innere des Kutschkastens langsam erwärmte, entspannten sich ihre Muskeln, und sie fiel in einen leichten Dämmerschlaf. Irgendwann schlief sie vollends ein und wachte erst auf, als die Kutsche am späten Nachmittag ein einziges Mal anhielt und der Fahrgast ausstieg, wahrscheinlich, um irgendwo eine Mahlzeit einzunehmen. Kathryn versuchte beim Gedanken an etwas zu essen, das Knurren in ihrem Magen zu ignorieren, und entspannte sich wieder, als die Kutsche ihre
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