Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
verdutzt, als würde sie Kauderwelsch reden. »Einen Doktor, Miss?«
»Auf der Stelle. Bitte!«
Er schien sich noch langsamer als sonst zu bewegen, doch allmählich straffte er sich, und sie hörte, wie er sich die Treppe hinuntertrollte. Sie überlegte, ob sie ihm nachlaufen und selbst Hilfe holen sollte, weil sie so viel schneller wäre, doch sie ertrug es nicht, Lang in seinem Leiden allein zu lassen. Ihr medizinisches Wissen war gering, doch selbst sie konnte erkennen, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Ein paar Stunden? Vielleicht ein paar Tage, falls er eine außergewöhnlich zähe Natur hatte?
Sie tupfte ihm die Stirn mit ihrem Taschentuch ab,während die eine oder andere Träne auf sein moderndes Strohlager tropfte. So musste es ja kommen, gestand sie sich jetzt. Gleich als sie seinen klaffenden Schnitt gesehen hatte, hatte sie so etwas befürchtet. Hatte es nicht wahrhaben wollen. Aber eine solche Verletzung, die tagelang unbehandelt eiterte, zog fast unwiderruflich eine Blutvergiftung nach sich. Und er war ein gebrechlicher Mann, der vorzeitig gealtert war.
War der Fluchtplan nur ein umständlicher Ausweg gewesen, um nicht über ihre eigene Zukunft nachdenken zu müssen? Eine Selbsttäuschung, die ihr unbewusstes Gefühl unterdrückte, dass in der Agentur nicht alles zum Besten lief? Oder vielleicht nur eine romantische Vorstellung von einem Familienleben? Hatte sie ihren Vater wiedergefunden, nur damit er gleich wieder verschwand?
Sie kniete sich neben die Matratze und nahm seine pergamentdünne Hand. Sie waren jetzt völlig allein. Kein Wärter, der zehn Schritte weiter herumlungerte, keine Zukunft, die Angst machte. Sie holte Luft und sagte ganz leise: »Vater.«
Seine blau angelaufenen Lider zuckten und kämpften mit ihrem eigenen Gewicht. Seine Augen – als er sie öffnete – waren die eines Monsters, gallegelb und von roten Adern durchzogen. Aber immer noch ihren Augen ähnlich.
Sie bemühte sich, ihre Stimme zu beherrschen. »Vater.«
Wieder ein rasselnder Atemzug – eine verzweifelteAnstrengung, sich zu räuspern, wie sie merkte. Er war zu schwach, um zu husten. »Mary.«
Sie öffnete ein Fläschchen mit Laudanum und hielt es ihm an die Lippen. Sanft stützte sie seinen Kopf, während er den bitteren Inhalt Schluck um Schluck trank. Nach einem zweiten Fläschchen wurde sein Atmen leichter und sein Todeskampf wurde etwas gemildert.
»Vater, ich bin gekommen, um dich zu holen. Bist du sicher, dass du nicht fliehen willst?«
Ein ganz schwaches Lächeln verzog seine Lippen, bestimmt eine übermenschliche Anstrengung für ihn. »Morgen.«
Sie weinte jetzt, denn sie war nicht mehr in der Lage, gegen die Tränen zu kämpfen, die ihr nun über die Wangen liefen. »Vater, sieh.« Sie zog den Jadeanhänger hervor. »Ich trage ihn ständig. Jeden Tag, seit ich ihn gefunden habe.«
Er blickte den Anhänger an, wenn auch nur kurz. Dann kehrte sein Blick zu ihrem Gesicht zurück und nahm ihre Züge auf. »Du weißt.«
»Warum bist du fortgegangen?« Sie schüttelte den Kopf. »Der Anhänger ist nur durch Zufall gerettet worden – ich hatte ihn schon an mich genommen und wollte die Unterlagen später holen. Sie sind verbrannt, ehe ich sie lesen konnte.«
Ein langes Schweigen. Dann blinzelte er lange und schmerzlich. »Am besten so.«
Sein mysteriöses Verschwinden. Sein sogenannter Auftrag. Sein Niedergang. Alles Dinge, über die sienie etwas erfahren würde. Ganz zu schweigen von den zärtlichen Geschichten über ihre Kindheit, die Geschichte der Heirat mit ihrer Mutter, das Glück, ihren Vater als Erwachsene zu kennen. Ein hysterischer Lachanfall stieg ihr in die Kehle, als sie die Ironie der Situation begriff. Ein toter Vater, der wieder lebendig wurde. Ein Mann, der sich weigerte, seine Vaterschaft anzuerkennen, bis es zu spät war. Ein Mann, der Antworten auf das hatte, was sie unbedingt wissen wollte, der aber zu schwach war, sie zu geben.
Halb hob er einen zitternden Finger. »Von meiner Mutter.«
»Der Anhänger?« Sie glaubte ein Nicken zu erkennen. »Was bedeutet er?«
Schweigen. Wenn sie sich nicht irrte, leichte Verdrossenheit. »Zu viel.«
Ob sie zu viel fragte, ob der Anhänger zu viel bedeutete – es blieb sich jetzt gleich. Und das war in Ordnung, denn mehr bekam sie nicht. Wieder tupfte sie seine Stirn mit ihrem Taschentuch ab. Sie nahm allen Mut zusammen, beugte sich über ihn und küsste ihn. Und seltsamerweise – aber vielleicht doch nicht so
Weitere Kostenlose Bücher