Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
seltsam – roch er unter dem abgestandenen Schweiß, dem Schmutz, dem süßlichen Geruch nach Laudanum und dem üblen Gestank der Infektion vertraut. Er roch wie ihr Vater.
Als sei der Kuss der Segen, auf den er gewartet hatte, schlossen sich seine Augen langsam, und sein Atem schien leichter zu gehen. Eine Welle der Panikstieg in ihr hoch und sie ergriff seine Hand. »Vater!« Sie war noch nicht bereit dafür – noch immer nicht. Sie wusste nicht, worauf sie wartete, wann die Zeit gekommen wäre, aber jetzt noch nicht. Es durfte nicht sein.
Sein Gesicht verzerrte sich. Vielleicht tat sie seiner Hand weh. Aber als sie den festen Griff lockerte, sagte er nur: »Schsch.«
Sie gehorchte, wenn es ihr auch schwerfiel.
In der Stille, die folgte, hörte sie von unten ein neues Geräusch: Schritte. Ihr Herz raste: endlich ein Arzt. Sie drückte Langs Finger sanft. Löste sich von ihm und stand auf. Wischte sich das Gesicht und schnäuzte sich, in der Hoffnung, dass die schwache Kerze das restliche Unheil verdecken würde.
Die Person kam mit gewichtigen Schritten die Treppe herauf, weder zögernd noch eilig. Und wenn man von der Reaktion des neuen Wärters, der den anderen abgelöst hatte, ausging – er erhob sich hastig und stieß dabei seinen Stuhl um –, dann handelte es sich um eine ziemlich wichtige Person. Selbst wenn der Wärter nicht so reagiert hätte, wäre ihr das an der Stimme aufgefallen: tief, bestimmt, knapp. »Ich muss ein Wort mit dem Gefangenen Lang sprechen.«
»Ihr Name, Sir?« Die Stimme des Wärters war unterwürfig.
»Geht dich nichts an.« Ein leises Klirren von Münzen, die von Hand zu Hand gereicht wurden. »So. Wo ist er?«
Mary runzelte die Stirn. Sie hatte die Stimme schoneinmal gehört, und zwar unlängst. Ob jedoch seine Weigerung, seinen Namen zu nennen, Unheil versprach, konnte sie nicht sagen. Als die Schritte auf die Zellentür zukamen, drehte sie sich nach ihm um. Beide Männer füllten die schmale Tür aus und der Herr mit der tiefen Stimme trat einen kleinen Schritt zurück. Er war sichtlich überrascht, sie zu sehen.
»Wer sind Sie?« Er war ungehalten und überrascht und seine Stimme war scharf. »Was machen Sie hier?«
Mary knickste. »Miss Lawrence vom Damenkomitee der St. Andrew’s Kirche. Ich habe mich in der Zeit seiner Not um den Gefangenen gekümmert.«
Der Mann maß sie mit kühlem und forschendem Blick. »Ich sehe Ihr Gebetbuch gar nicht.«
»Der Gefangene wollte nur stille Zuwendung.« Mary hoffte, dass der Wärter zu eingeschüchtert war, um Einwände zu erheben. »Und Sie, Sir?« Ihre Stimme war liebenswürdig und auch forsch – die einer Frau der Mittelschicht, die unhöfliches Verhal ten nicht gewohnt war.
»Ich?« Diese Frage schien er nicht erwartet zu haben, doch als er sich umsah, fiel der Schein der La terne des Wärters deutlich auf sein Gesicht, und Mary erschrak unvermittelt. Sie erkannte den Mann auf einmal. Hatte ihn das erste Mal im Buckingham-Palast gesehen. Er trug nicht die übliche Uniform. Sein blauer Mantel war ohne Abzeichen und er hatte keinen Schlagstock bei sich. Aber es war derselbe Mann: Kommissar Russell von Scotland Yard. »Russell. Alfred Russell, in einer privaten Angelegenheit.Wenn Sie so freundlich wären, Ma’am, mir ein kurzes Gespräch mit dem Gefangenen zu gestatten. Es dauert nicht lang.«
Marys erste Reaktion war, es ihm mit irgendeiner absurden Ausrede zu verweigern. Sie wehrte sich von ganzem Herzen gegen die Vorstellung, ihren Vater mit dem Polizeikommissar allein zu lassen. Doch Vorsicht gewann die Oberhand. Wenn sie bloßgestellt würde, war sie Lang keine Hilfe. Daher neigte sie leicht den Kopf und verließ die Zelle mit erhobenem Kinn.
Nach einer kurzen Pause sagt Russell zu dem Wärter: »Ist er bei sich?«
»Ich – ich kann es nicht mit Gewissheit sagen, Sir. Die Dame weiß es vielleicht.«
Mary drehte sich um. »Ja, absolut.«
»Und er versteht Englisch, Miss Lawrence?«
»Sehr gut.«
»Danke, Ma’am.«
Der verunsicherte Wärter folgte ihr nach einem Moment und räusperte sich. »Leider gibt es keinen Warteraum, der für eine Dame geeignet wäre, Ma’am.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte sie und blieb in dem Vorraum stehen. »Danke.« Sie flehte ihn innerlich an, still zu sein und sie nicht mit Erklärungen und unbeholfenen Konversationsversuchen zu quälen. Sie konzentrierte sich mit allen Sinnen auf die Zelle. Sie hörte, wie Russell sich räusperte. Es entstand eine längere
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