Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
ie ahnte, was der Briefumschlag enthielt. Auf dem Siegel war eine Krone mit dem Buchstaben R für Regina – Königin. Aber sie fürchtete, dass sie schon zu lange aufgehalten worden war. Wenn sie den bohrenden Fragen von Anne und Felicity auszuweichen vermochte, konnte sie das hier ebenfalls warten lassen. Also stopfte sie den Brief in ihre Handtasche und beeilte sich, nach Limehouse zu kommen, wo sie verschiedene Vorkehrungen treffen wollte. Nach einigen Erkundigungen mietete sie sich in einem ruhigen Gästehaus ein. Sie nannte sich Ellen Tan, gab sich als Bürokraft aus, die in Kürze ihren invaliden Vater erwartete, und zahlte eine Woche im Voraus.
Die Vermieterin nahm ihre Ausführungen fraglos hin, denn sie war ganz von ihren drei schwarzhaarigen Kindern in Anspruch genommen, die am Kamin spielten. Das Haus war sehr geeignet, um unterzutauchen, fand Mary. Mahlzeiten waren inbegriffen, die Wirtin benötigte dringend ein Zubrot, währendihr Mann auf See war, und von einer Frau, die mit einem Laskaren verheiratet war, konnte Mary vielleicht etwas Mitgefühl erwarten. Der Mangel an Neugier und das zielstrebige Interesse an Marys Geld waren zumindest vielversprechend. Sie musste wohl auf ihre Geldbörse achten, während sie hier wohnten, doch diese Gier war ihr Vorteil: Selbst wenn die Vermieterin von einer Fahndung Wind bekam, bestand die Chance, dass sie sich bestechen ließ. Sie würden zwar nicht in absoluter Sicherheit sein, aber es war besser, als Mary gehofft hatte.
Mehr konnte sie zunächst nicht tun. Vieles hing von Langs Entscheidung nachher ab und davon, wann ein bestechlicher Wächter Dienst hatte. Es brachte nichts, länger zu zögern, und doch war Mary vor diesem erneuten Besuch im Tower auf einmal furchtbar nervös. Sie trödelte länger als nötig beim Kauf der kleinen Flaschen mit Laudanum und überlegte, wie viele sie brauchte und wann der beste Zeitpunkt war, mit Langs Entzug zu beginnen. Schließlich blieb jedoch nichts mehr zu tun – und die Zeit wurde schon knapp. Die Dämmerung stand bevor und danach würde man sie niemals zu Lang vorlassen.
Ein anderer Wärter war am Tor und er befragte sie ausführlich und untersuchte ihre Tasche sorgfältig. Mary war froh, sich die Zeit genommen zu haben, das Bündel Pfundnoten – und natürlich das Laudanum – im Futter ihrer Tasche und am Körper verteilt zu haben. Endlich stieg sie die Wendeltreppe zumCradle Tower hinauf. Inzwischen verstand sie ihre Beklommenheit und schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit. Es ging ja nicht allein um Langs Schicksal – egal, ob er sich für Hoffnung oder Resignation entschied, für Leben oder Tod –, sondern auch um das ihre. Welche Ironie, dass sich ihr Schicksal hier entschied, und zwar durch jemanden, der ihr fast fremd war, nicht durch ihren eigenen Entschluss. Es machte alles einfacher und gleichzeitig schwieriger.
Hier oben hatte derselbe Wärter wie gestern Dienst. Sie musste die Dienstpläne herausbekommen, wenn Lang fliehen wollte. Als sie am Eingang erschien, schloss der Wärter die Zellentür auf, als gehöre das bereits zur Routine. Tat es ja gewissermaßen auch. Er ließ ihr sogar eine Talgkerze, damit sie besser sehen konnte. Dann zog er sich an das Fenster im Treppenhaus zurück und freute sich wohl auf die Gelegenheit, heimlich ein Pfeifchen zu rauchen. Gut zu wissen.
Nervös, aber gewappnet betrat sie den Raum mit der Kerze in der Hand. »Guten Abend. Wie geht es Ihnen heute?«
Keine Reaktion von dem Klumpen unter der Decke, nur ein schwaches Rasseln.
»Mr Lang?«
Wieder das leise Rasseln, dann ein schwaches Wimmern.
»Hallo?« Vorsichtig zog sie die Decke zurück. Was sie sah, ließ sie erschrocken die Luft einziehen. IhrMagen revoltierte. Das raue Geräusch kam von Lang Jin Hai, der um Atem rang. Das Wasser in seinem Brustkorb verursachte das Rasseln. Sein Haar war schweißdurchnässt und klebte in Strähnen am Schädel. Selbst im Kerzenlicht sah man, dass seine Haut blass und graugrün war. Gespenstisch und blicklos rollten seine Augen in den Höhlen.
Fluchtartig lief sie in den Vorraum. Ihre Stimme war hoch und schrill vor Angst. »Hallo, Wache! Rufen Sie einen Arzt!«
Der Wärter sah sie verwundert an. Um seinen Kopf ringelten sich Rauchfäden. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Miss?«
»Mir geht es gut, aber der Gefangene stirbt. Rufen Sie um Himmels willen sofort einen Arzt. In diesem Höllenloch muss es doch einen geben!«
Wieder blinzelte der Wärter
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