Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
Road, St. John’s Wood
M iss Scrimshaws Mädcheninstitut sah nicht viel anders aus als die übrigen Häuser in der Acacia Road: eine große Backsteinvilla mit einem hohen schmiedeeisernen Zaun um das Grundstück. Es war eine gewöhnliche Mädchenschule, mit Lehrerinnen und Schülerinnen und Unterricht und Mahlzeiten. Eher ungewöhnlich war allerdings ihre Vorgehensweise: Die Schule suchte sich die Mädchen sorgfältig aus und verlangte kein Geld für die Ausbildung. Und ihre Philosophie war in vieler Hinsicht revolutionär. Hier wurde den Mädchen beigebracht, dass Frauen mehr waren als Ehefrauen und Mütter, häusliche Engel und Gespielinnen. Die Schule bereitete ihre Absolventinnen auf ein unabhängiges Leben in ehrenwerten Berufen vor.
Doch es war das Dachgeschoss in Miss Scrimshaws Mädcheninstitut, unter dem sich das explosivste Geheimnis verbarg: ein durchweg weiblicher Geheimdienst, der sich die stereotypen Vorurteile gegen das weibliche Geschlecht zunutze machte. Die Agenturvermittelte verdeckte Agentinnen in Umgebungen, die für männliche Spione undenkbar waren – in Spülküchen oder als Gesellschafterinnen oder Gouvernanten für höhere Töchter. Die Erfolge sprachen für sich. Achtzehn Monate nachdem Mary aufgenommen worden war, konnte sie ihr Glück immer noch nicht fassen.
Heute jedoch öffnete sie das Gartentor mit einem unbehaglichen Gefühl. Eigentlich sollte sie zu diesem Zeitpunkt ganz woanders sein. Scotland Yard hielt Lang Jin Hai im Tower von London gefangen – ein Ort, der Mary mit abergläubischer Furcht erfüllte. Das Gefängnis hatte einen legendären Ruf und man verband damit die schlimmsten Verbrecher. Es gab sogar einen Zugang von der Themse, der Verrätertor hieß, nach denen, die auf diesem Weg in den Kerker gebracht worden waren. Mary hatte nicht die leiseste Ahnung, wie man es anstellte, Sträflinge im Gefäng nis , ganz zu schweigen im Tower, zu besuchen. Abgesehen davon war sie alles andere als bereit, diesem Mann, der vielleicht ihr Vater war, gegenüberzutreten. Fast alles – selbst ein Sprung in die Themse – schien leichter.
Zu versuchen, ihm aus der Ferne zu helfen, schien schon etwas angenehmer, wenn auch weniger mutig. Doch nun saß sie wieder in der Patsche: Sie war gerade von einem Einsatz abberufen worden (obwohl »wenig Gefahr« bestand) und stellte auf einmal fest, dass sie ihn dringend brauchte. Wie sonst sollte sie den Fall gegen Lang Jin Hai und die Rolle der darinverwickelten königlichen Familie verfolgen? Dieser Einsatz war ihre einzige Möglichkeit, weitere Gespräche zwischen der Königin und Scotland Yard zu belauschen. Anne und Felicity handelten jedoch nie ohne Grund; es würde viel Überredungskunst kosten, sie an dem Fall weiterarbeiten zu lassen, auch wenn seltsamerweise keine Gefahr bestand.
Mary blieb stehen, holte tief Luft und beschloss, nur zu tun, was für den Fall notwendig war, ohne sich von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen. Nämlich die rätselhaften Diebstähle im Palast aufzuklären. Alles für Lang zu tun, was ihr möglich war, und gleichzeitig distanziert zu bleiben. Am wichtigsten war ihr jedoch, ihre Abstammung geheim zu halten. Die brachte zu viele Schwierigkeiten mit sich. Brandmarkte sie als Außenseiterin. Als Fremde. Als Gezeichnete. Sie war eine Benachteiligung, ein Hindernis, und Mary wollte doch dazugehören – zum englischen Leben allgemein und zur Agentur im Besonderen.
Sie ging am Haupteingang vorbei um das Haus herum zum Privateingang. Man erwartete sie schon. Unmittelbar nach ihrem vereinbarten Klopfzeichen öffnete ihr eine dünne Frau mit Brille. »Guten Tag, Miss Treleaven.«
Anne Treleavens wachsamer Blick beobachtete sie genau. »Guten Tag, meine Liebe.« Sie deutete auf die Treppe. »Nach dir.«
Mary hatte plötzlich den Wunsch, sich in Annes Arme zu werfen und zu weinen – als ob eine kindischeBeichte alles zurechtrücken würde, was in ihrem Leben schiefgelaufen war! Sie musste sich richtig zusammennehmen, als sie die vier Etagen zum Dachboden hochstieg.
Das Büro der Agentur sah eher wie ein Lehrerzimmer aus, nicht wie ein geheimes Hauptquartier: etwas schäbig, mit zusammengewürfelten Stühlen und Sofas, die sich über die Jahre angesammelt hatten. Das übliche Teetablett wartete schon, die blank geputzten Lampen und – sehr einladend – ein prasselndes Feuer.
Als Mary das Zimmer betrat, wandte sich Felicity Frame erwartungsvoll nach ihr um. Erstaunt betrachtete sie
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