Skandal In Belle Terre
verwirrend, einige überraschend.
Am meisten schockierte Jericho, dass auch sein eigener Großva ter eine Geliebte gehabt hatte.
„Aber sicher!” sagte Grandmere Rivers mit Nachdruck. „Sie war ein hübsches kleines Ding, nicht so groß und grobknochig wie ich. Dein Großvater hat sehr gut für sie gesorgt. Und ich konnte das akzeptieren. Glücklicherweise hatten sie keine Kinder.” Sie sah ihn aus ihren müden alten Augen an, die einmal genauso grau und lebhaft gewesen waren wie seine. „Du kannst also sicher sein, mein Junge, dass hier auf den Straßen von Belle Terre keine Cousins und Cousinen oder Onkel und Tanten von dir herumlaufen. Dein Großvater mag ein exzentrischer Mann gewesen sein und sein halbes Vermögen an diese andere Frau verschwendet haben, aber in dem Punkt hat er sich vorbildlich verhalten. Es gibt keine Nachkommen von dieser anderen Frau.”
„Aber hat dir das alles nichts ausgemacht?”
Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass seine Stimme gezittert hatte, als er diese Frage stellte. Wie hatte dieser Mann, den er nie persönlich kennen gelernt hatte, seiner geliebten Großmutter nur so wehtun können?
Letitia Rivers hatte Jerichos Gesicht mit den Händen umfasst und ihm tief in die Augen gesehen. „Mein lieber Junge, dein Großvater ist das beste Beispiel dafür, dass die soziale Stellung eines Menschen ihn nicht automatisch zu einem besseren, weiseren Menschen macht. Das darfst du nie vergessen. Aber du musst auch wissen, dass die Tatsache, dass dein Großvater sich eine Geliebte hielt, nichts mit dir zu tun hat, dich also nicht zu einem schlechten Menschen macht. Genauso wenig wie deine kleine Freundin etwas mit dem ,Beruf’ ihrer weiblichen Vorfahren zu tun hat. Sie ist das, was sie ist - ein liebes, hübsches und intelligentes Mädchen.”
„Dann kann ich also weiter mit ihr befreundet sein?” hatte er gefragt.
Und seine Großmutter hatte ihn nur durch ihr Lorgnon angesehen, das sie immer noch einer normalen Brille vorzog, und hatte genickt. „Aber selbstverständlich.”
„Gut”, er beugte sich vor und küsste sie auf die runzelige Wange, „genau das habe ich auch vor.”
Grandniere lachte leise vor sich hin. „Sehr schön. Bring sie doch mal mit, deine kleine Miss Delacroix. Wir können Limona de trinken und Zuckerkekse essen.”
„Gern”, versprach er.
Aber irgendwie war es nie dazu gekommen.
Die Jahre waren so schnell vorbeigegangen. Maria und er waren weiter befreundet gewesen. Ihre Freundschaft vertiefte sich, dann kam die sexuelle Anziehung dazu, dann Liebe. Und in einer leidenschaftlichen Nacht hatten sie nicht aufgepasst und ein Kind gezeugt. Sie hatten dann heimlich geheiratet und während sie noch überlegten, was sie als Nächstes tun sollten, wurde Maria Elena brutal überfallen, verlor das Baby und verschwand kurz danach aus der Stadt. Und nur ein schmaler Goldring erinnerte Jericho an das, was er verloren hatte.
„Aber jetzt bist du hier bei mir”, sagte er kaum hörbar. „Und obgleich ich nichts und niemanden so will wie dich, muss ich dich doch überzeugen, dass du gehen musst.” Er nahm ihre Hand.
Er wusste nicht mehr, wie lange er so gesessen und immer wieder überlegt hatte, wie er die Gefahr hätte voraussehen können und wie er Maria schützen könnte. Vielleicht waren nur ein paar Minuten vergangen, als er plötzlich merkte, dass sie seinen Händedruck erwiderte.
„Jericho …”
„Hallo, du kleine Schlafmütze.” Er versuchte, unbeschwert zu klingen, aber als Maria die Augenbrauen zusammenzog, wusste er, dass es ihm nicht gelungen war.
Sie richtete sich auf, entzog ihm ihre Hand und strich ihm langsam und zärtlich das Haar zurück. „Du siehst so unglücklich aus.” Sie legte ihm die warme Handfläche auf die nackte Brust. „Bist du böse auf mich?”
„Böse?” Er zog ihre Hand an seine Lippen. „Warum sollte ich auf dich böse sein?”
„Weil ich nach all den Jahren plötzlich wieder hier aufgetaucht bin. Weil ich dein Leben auf den Kopf stelle und weil ich Unfrieden in deine friedliche kleine Stadt gebracht habe.”
„Willst du denn wieder Teil meines Lebens sein?” Seine Stimme klang gepresst. „Oder ist das nur eine kurze Episode in dem Leben einer bekannten Auslandskorrespondentin?”
Einen kurzen Augenblick lang sah sie ihn traurig an. Dann lächelte sie. „Du meinst also, dies ist einfach eine Affäre wie viele andere?”
Jericho setzte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
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