Skandal In Belle Terre
„Seit Jahren versuche ich, das Gesicht deutlicher vor mir zu sehen”, stieß sie stockend hervor, „das Gesicht des Jungen, dessen Maske ich herunterreißen konnte. Aber damals war es dunkel, und ich konnte mich bisher einfach nicht erinnern. Gestern Abend hatte ich plötzlich das Gefühl, etwas wieder zu erkennen. Oh, nichts Konkretes. Es war nichts als ein Hauch, es roch nach Unbehagen, Angst. Dann war es vorbei.” Sie lachte bitter auf. „Aber ich rede Unsinn, ich weiß.” Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und warf es mit einer schnellen Kopfbewegung zurück. „Vielleicht möchte ich es nur so gern und habe deshalb schon Halluzinationen.”
Doch dann schüttelte sie heftig den Kopf. „Nein!”
Sie wandte sich schnell zu Jericho um, der sie besorgt ansah, und achtete nicht darauf, dass ihr das Laken bis zur Taille herunterrutschte. „Nein, ich irre mich nicht. Einer oder vielleicht alle von ihnen waren gestern Abend da.”
Jericho sehnte sich danach, Maria in die Arme zu schließen und zu trösten. Aber er sagte dann nur leise: „Nein, du irrst dich nicht.”
Als sie ihn überrascht anstarrte, strich er ihr sanft über die Wange. „Ich weiß leider auch nicht, wer sie sind, aber ich kenne den Typ. Nur wenige unserer damaligen Klassenkameraden, die heute noch in Belle Terre leben, hätten sich diese Party entgehen lassen oder die Chance, dich wieder zu sehen.”
„Um herauszufinden, was aus dem hübschen Mädchen geworden ist, das aus der falschen Familie kam?” fragte Maria. „Oder um mein Erinnerungsvermögen zu testen?”
„Wahrscheinlich von beidem ein bisschen.” Sie war ihren Peinigern mit hoch erhobenem Haupt begegnet und hatte für jeden ein charmantes Lächeln gehabt. Was den Männern, die sie vor vielen Jahren gequält hatten, wohl durch den Kopf gegangen war? Hatten sie innerlich nur hämisch gegrinst? Oder hatten sie Schwierigkeiten, ihre Angst nicht zu zeigen, wieder erkannt zu werden? Hatte es irgendeinem Leid getan, was damals passiert war? „Das werden wir nie genau wissen, Liebste.”
„Es sei denn, ich erinnere mich.” Maria griff nach Jerichos Hand und streichelte sie. Wie zärtlich konnten Hände sein und wie grausam. „Unsere Tochter würde jetzt achtzehn sein, wenn sie am Leben geblieben wäre.” Wieder versank sie in Gedanken.
„Das Restaurant schloss erst spät, und ich rannte zum Strand, wo ich dich treffen wollte. Und da unter den dichten Zweigen der alten Eiche warteten sie auf mich. Wenn ich nur aufmerksamer gewesen wäre, dann hätte sie gelebt.”
„Aber worauf hättest du achten sollen, Maria Elena? Inwiefern hättest du vorsichtiger sein sollen?” Jericho wollte auf keinen Fall, dass sie sich die Schuld an der Fehlgeburt ihres gemeinsamen Kindes gab. „Damals galt Belle Terre als ausgesprochen sicher. Eine kleine verschlafene Stadt, in der man die Türen nicht abschloss und die Fenster offen ließ. Keiner hätte vorhersehen können, was geschah. Und wenn man überhaupt jemandem die Schuld geben kann, dann mir. Ich hätte im Restaurant warten sollen, bis deine Schicht vorbei war, und nicht am Strand.”
„Aber du konntest doch nicht wissen, dass …”
„Nein, das nicht”, sagte er schnell, „ebenso wenig wie du.”
Maria schwieg und sah traurig vor sich hin. Jericho schnitt es ins Herz, wenn er daran dachte, wie sehr sie noch vor wenigen Stunden gestrahlt hatte. Aber allmählich glätteten sich ihre Züge.
„Ich war auf dem Friedhof und habe die vielen Blumen gesehen”, sagte sie leise. „Ich dachte, du hättest schon vergessen, dass heute ihr Geburtstag gewesen wäre.”
„Das Datum werde ich ganz sicher nicht vergessen.”
Jedes Jahr ging er auf den Friedhof. Das Grab hatte nur einen kleinen Stein, auf dem lediglich „Ein kleines Mädchen” stand.
So hatte Maria Elena es gewollt. Wollte sie damit sich selbst oder ihn schützen? Oder das Baby? Er hatte nie die Gelegenheit gehabt, sie zu fragen. Sie war körperlich und seelisch einfach zu kaputt gewesen.
Und dann war sie plötzlich verschwunden, noch bevor sie sich richtig erholt hatte und ohne ihm etwas zu sagen. Sie ließ den Terror von Belle Terre hinter sich. Aber sie verließ auch ihn, und er hatte das akzeptieren müssen. Jedes Jahr hatte er auf das kleine Grab einen Blumenstrauß gelegt.
„Ich danke dir dafür, Jericho.” Sie schwieg kurz und setzte dann nachdenklich hinzu: „Es ist wirklich seltsam, dass das Museum gerade zu dieser Zeit eröffnet wurde und
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