Skandal
lag jetzt schon im Krieg mit dem Teil ihres Innern, der die Begegnung immer gefürchtet hatte. Von der Spannung, die daraus resultierte, wurde ihr schwindlig.
Emily bemühte sich verzweifelt, an ihrem gesunden Menschenverstand festzuhalten, und sie zwang sich, immer daran zu denken, daß aus einer solchen Begegnung unmöglich etwas resultieren konnte, was von romantischer Natur gewesen wäre. Es stand sogar tatsächlich zu befürchten, daß es sie diese hochgeschätzte Korrespondenz kosten würde, die ihr in den letzten Monaten so wichtig geworden war.
Die furchtbare Gefahr, die hier lauerte, bestand darin, daß S. A. Traherne, während er in der Nachbarschaft auf dem Land weilte, eine gräßliche Anspielung auf den unseligen Vorfall in ihrer Vergangenheit vernehmen könnte. Seine Gastgeberin Lady Gillingham wußte natürlich alles über diesen grausigen Makel, der Emilys Ruf anhaftete. Alle anderen in der Nähe von Little Dippington wußten es auch. All das hatte sich vor fünf Jahren zugetragen, und heute wurde kaum noch darüber geredet, aber es war gewiß kein Geheimnis.
Emily bemühte sich, realistisch zu sein. Wenn S. A. Traherne sich lange genug in dieser Gegend aufhielt, würde ihm zwangsläufig früher oder später etwas über den Vorfall zu Ohren kommen.
»Verdammt und zum Teufel!« fluchte Emily in die Stille der Bibliothek hinein. Sie zuckte wegen dieser unweiblichen Ausdrucksweise zusammen.
Einer der Nachteile daran, daß sie so viel Zeit allein hier in dem großen Haus verbrachte und nur in Gesellschaft der Dienstboten war, war der, daß sie sich ein paar schlechte Angewohnheiten zugelegt hatte. Sie konnte beispielsweise ungehindert fluchen wie ein Mann, wenn ihr danach zumute war, und sie hatte sich angewöhnt, das auch hemmungslos zu tun. Emily sagte sich, im Umgang mit S. A. Traherne müsse sie ihre Zunge hüten. Sie war sicher, daß ein Mann von seiner Sensibilität und seinem Zartgefühl sehr großen Anstoß daran nehmen würde, wenn eine Frau fluchte.
Emily stöhnte. Es würde sehr schwierig werden, S. A. Trahernes hohen Maßstäben gerecht zu werden. Schuldbewußt und mit einem Anflug von Gewissensbissen fragte sie sich, ob sie ihn, was das Maß ihrer eigenen Kultiviertheit und ihres Intellekts anging, nicht vielleicht doch ein wenig in die Irre geführt hatte.
Sie sprang auf und trat an das Fenster, von dem man auf die Gärten sehen konnte. Sie wußte nicht, ob sie sich übermäßig freuen oder sich den Tiefen der Verzweiflung hingeben sollte. Trahernes Brief gab ihr das Gefühl, vor einem tiefen Abgrund zu stehen.
S. A. Traherne kam nach Little Dippington. Sie konnte es nicht fassen. Die Möglichkeiten und die Risiken brachten ihr Vorstellungsvermögen ins Wanken. Er schrieb nicht, wann er eintreffen würde, aber es klang ganz so, als könnte er schon innerhalb kürzester Zeit hier auftauchen. Vielleicht in ein paar Wochen. Oder nächsten Monat.
Vielleicht sollte sie einen überstürzten Besuch bei irgendwelchen entfernten Verwandten erfinden.
Aber Emily glaubte nicht, daß sie es ertragen könnte, sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen, selbst dann nicht, wenn dadurch alles kaputtging. Wie grauenhaft, daß es so schrecklich war, an ein Treffen mit dem Mann zu denken, den sie liebte.
»Verdammt und zum Teufel«, sagte Emily noch einmal. Und dann merkte sie, daß sie idiotisch grinste, obwohl ihr eher nach Weinen zumute war. Ihre Verwirrung war nahezu überwältigend. Sie trat wieder an den großen Schreibtisch und schaute auf den Rest von S. A. Trahernes Brief herunter.
Ich danke Ihnen dafür, daß Sie mir die Abschrift Ihres neuesten Gedichts mitgeschickt haben, Gedanken in den dunklen Stunden vor dem Morgengrauen. Ich habe es mit großem Interesse gelesen, und ich muß Ihnen sagen, daß mich insbesondere die Zeilen berührt haben, in denen Sie die bemerkenswerten Ähnlichkeiten zwischen einer gesprungenen Vase und einem gebrochenen Herzen erkunden. Sehr ergreifend. Ich vertraue darauf, daß Sie zu dem Zeitpunkt, zu dem Sie diesen Brief erhalten, bereits eine positive Reaktion von einem Verleger bekommen haben. Auf ewig der Ihre S. A. Traherne
In dem Moment wußte Emily, daß sie unmöglich davonlaufen konnte, um imaginäre Verwandte zu besuchen. Komme da, was wolle, aber sie konnte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, den Mann zu treffen, der ihre Gedichte so gut verstand und der ihre Verse sehr ergreifend fand.
Sorgsam faltete sie S. A. Trahernes Brief zusammen und
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