Skelett
Kurs nicht änderten, würden sie in wenigen Minuten mit ihm kollidieren.
Durch die Fenster der Brücke starrte Abdul hinaus in die dunkle, regnerische Nacht, bis er die Positionslichter eines Bootes sah, das sich querab von ihnen gerade durch ein Wellental schob. Vermutlich ein französischer Fischkutter, dachte er, der mit seinem nächtlichen Fang einen Hafen ansteuert. Weil Abdul den Frachter entgegen jeglicher Vorschrift ohne Positionslichter fahren ließ, konnte ihn die Besatzung des Kutters, der offensichtlich kein Radar an Bord hatte, nicht erkennen.
»Soll ich den Kurs ändern?«, fragte der Rudergänger.
»Nein, fahr einfach zu«, antwortete Abdul, der nicht das Risiko eingehen wollte, dass sein Schiff von den Franzosen gesehen und im nächsten Hafen gemeldet wurde.
Als der Kapitän des Kutters die Gefahr schließlich doch bemerkte, war es bereits zu spät. Aus der Schwärze der Nacht kam auf einmal der hoch aufragende Bug des Frachters auf ihn zu. Er schnitt den kleinen Fischkutter, noch bevor dieser ein Ausweichmanöver einleiten konnte, in zwei Teile, die augenblicklich zu sinken begannen.
Abdul nahm sein Megafon, drehte sich um und rief den Wachen auf Deck ein paar Befehle zu. Sofort flammten starke Scheinwerfer auf und leuchteten die See um das sinkende Wrack ab. Einer der Fischer hatte es geschafft, über Bord zu springen. Von einer Schwimmweste getragen, schwamm er nun inmitten des brodelnden Gischts eines sich brechenden Wellenkamms. Obwohl sich Abdul ziemlich sicher war, dass der Mann bei diesem Seegang nicht lange am Leben bleiben würde, wollte er kein Risiko eingehen. Er bellte einen weiteren Befehl nach unten, woraufhin einer der Araber den Mann mit einem Schnellfeuergewehr unter Beschuss nahm. Abdul sah durch ein Fernglas, wie hintereinander mehrere Kugeln in den Kopf des Mannes einschlugen.
Der Araber nickte zufrieden. Die starke ablandige Strömung würde die Wrackteile des Fischerboots und die Leiche hinaus in den offenen Atlantik treiben, wo niemand sie so schnell zu Gesicht bekommen würde.
»Gelobt sei Allah«, sagte er laut und neigte den Oberkörper in Richtung Osten. »Möge er auf unserer Rückfahrt für ruhigere See sorgen.«
»Wir werden Drago Volkanian einen Besuch abstatten«, verkündete Tweed.
»Wann?«, fragte Paula.
»Jetzt sofort.«
»Aber es ist noch nicht hell.«
»Das ist mir egal. Wir fahren zur Jermyn Street.«
»Wird Volkanian um diese Zeit denn nicht im Bett sein?«
»Ich glaube nicht, dass er viel Schlaf braucht. Nicht bei den Problemen, die dieser Mann momentan hat. Er weiß genau, dass irgendetwas vor sich geht, hat aber keine genaue Vorstellung, was. Das hält ihn bestimmt auf Trab.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»Ja. Dieser Fall wird immer mehr zu einem Wettrennen gegen die Zeit. Wenn wir nicht rechtzeitig eingreifen, wird es noch mehr Tote geben.«
Beide standen schon im Mantel an der Tür, als das Telefon klingelte. Monica hob ab und wandte sich an Tweed.
»Sie erraten nie, wer gerade unten am Empfang steht und auf Sie wartet.«
»Sagen Sie es mir.«
»Abel Gallagher, der Chef der Special Branch«, sagte sie.
»Wieder raus aus den Mänteln«, sagte Tweed. »Bitten Sie ihn hoch.«
Als Gallagher mit hochrotem Kopf ins Büro gestürmt kam, saß Tweed an seinem Schreibtisch und tat so, als würde er gerade ein paar Akten studieren.
»Hallo, Abel«, sagte er freundlich. »Wem oder was verdanke ich die Ehre Ihres Besuchs?«
»Wir machen uns Sorgen um Sie. Und mit ›wir‹ meine ich mich und die Regierung Ihrer Majestät. Man erwartet von Ihnen, dass Sie endlich diese Serie von Mordfällen aufklären, sonst machen die Zeitungen mit ihren Schlagzeilen noch das ganze Land verrückt. Und was tun Sie? Sie treiben sich auf irgendwelchen obskuren Missionen im Ausland herum. Ihr Platz ist hier!«
»Wer sagt das?«
» Ich sage das.«
»Woher wollen Sie denn wissen, dass ich im Ausland war?«
»Einer meiner Agenten hat Sie dabei beobachtet, wie Sie in der Waterloo Station in den Eurostar gestiegen sind. Und der fährt nun mal nach Frankreich. Was wollten Sie da?«
»Jetzt holen Sie erst einmal tief Luft, Abel«, sagte Tweed gelassen. »Sie sind ja schon ganz rot im Gesicht. Ich will Ihnen mal etwas verraten: Erstens gehen meine Ermittlungen Sie einen feuchten Kehricht an, zweitens hat Ihre Abteilung dem SIS überhaupt nichts zu sagen, und drittens wüsste ich gern, wen Sie konkret meinen, wenn Sie von der ›Regierung Ihrer Majestät‹
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