Sklaven der Begierde
liebte. Er hatte sie geheiratet, weil er ihn liebte.
Nur widerwillig zog Søren sich von ihm zurück. Ein solcher Kuss war sonst immer der Vorbote einer Nacht voller Leidenschaft. Voller Passion – Kingsley hatte früher gar nicht gewusst, was Passion war. Er lernte es erst, als er auf eine katholische Schule kam und von der Passion Christi hörte. Vor Søren war Passion für ihn nicht mehr gewesen als ein Synonym für Lust und Begehren und sexuelles Vergnügen. Doch dann erkannte er die neue, die wahre Bedeutung des Wortes. Und jetzt war es das, was er für Søren empfand. Und für das, was Søren ihm antat.
„Ich muss gehen“, sagte Søren.
Kingsley öffnete die Augen. „Ich verstehe.“
„Ich wusste, dass du verstehen wirst. Und sie wird es auch – bald.“
„Wirst du ihr offenbaren, was du bist?“
„Sie ist deine Schwester. Was meinst du? Soll ich es ihr erzählen? Oder lieber nicht?“
Marie-Laure wäre am Boden zerstört, wenn sie erführe, was für einen Mann sie geheiratet hatte. Aber noch schlimmer wäre es für sie, wenn er sie nicht anfasste und sie keine Erklärung dafür hätte.
Es war Kingsleys Entscheidung. Und er wusste, welche Antwort die richtige war.
„Sag es ihr nicht. Noch nicht.“
„Wenn du das wirklich für das Beste hältst.“
„Das tue ich“, log er, ohne Søren dabei in die Augen zu schauen.
Dann blickte er auf und sah, dass Søren die Tür anstarrte wie einen Feind, den es zu überwinden galt.
„Du willst nicht zu ihr gehen.“
„Nein“, bekannte er. „Ich will bei dir bleiben.“
„Dann bleib bei mir. Bleib für immer.“
Søren beugte sich zu ihm und küsste ihn – es war ein langer, tiefer, besitzergreifender Kuss. Dann richtete er sich zu voller Körpergröße auf. Nie zuvor war er Kingsley so attraktiv erschienen – und so unglücklich.
„Deshalb habe ich sie ja geheiratet, Kingsley. Damit ich für immer bei dir bleiben kann.“
Der Kuss brannte noch immer auf Kingsleys Lippen, und der Moment hing zwischen ihnen in der Luft wie der letzte Ton einer Klaviersonate.
Søren schaute weg und machte einen Schritt auf die Tür zu, dann blieb er stehen, drehte sich um und stieß Kingsley hart gegen die Wand der Kapelle. Der erste Kuss war eine Art Entschuldigung gewesen, der zweite eine Erklärung. Aber dieser dritte und letzte Kuss war ein Angriff. Kingsley ließ Søren in seine Lippen beißen und in seine Zunge, und er ließ auch zu, dass er seine Finger fest, ganz fest in seine Kehle drückte …
„Erbarmen“, flüsterte er dann, seine Lippen an Sørens Zähnen.
Søren hörte sofort auf.
Kingsley hob die Hand und wischte sich das Blut vom Mund.
Søren riss sich von ihm los und trat hinaus in die längste Nacht des Jahres. Marie-Laure würde gewiss schon bald verstehen, wie die Situation zwischen ihr und ihrem Ehemann war, auch wenn Søren ihr nichts von seinen speziellen Vorlieben erzählte. Es war doch wirklich das Beste für sie alle. Das viele Geld bedeutete Freiheit. Sie konnten ab sofort tun und lassen, was immer sie wollten. Für Kingsley und Søren bedeutete das Arrangement, dass sie sich jederzeit treffen konnten, ohne Verdacht zu erregen. Für Marie-Laure … Kingsley war nicht ganz sicher, was das Ganze für seine Schwester bedeutete. Aber wenn sie zwischen etwas so Flüchtigem wie Liebe und etwas so Handfestem wie Geld wählen konnte, würde sie sich doch bestimmt für Letzteres entscheiden.
Oh ja, natürlich würde sie es verstehen …
Bien sûr .
Aber sie hatte es nicht verstanden.
Kingsley stand mit Marie-Laure in der kleinen Küche der Gästewohnung, in der sie nun mit Søren lebte. Die Fathers hatten versprochen, dass sie für den Rest des Schuljahres hier wohnen bleiben konnte, während Søren sein erstes Jahr als Lehrer beendete. Sosehr die Schüler Søren fürchteten, so sehr liebten ihn die Priester. Kingsley wusste, dass Father Henry alles täte, um Søren in St. Ignatius zu halten, notfalls würde er ihn sogar adoptieren. Und Marie-Laure machte sich nützlich. Sie unterrichtete die jüngeren Schüler in Französisch und half Father Aldo beim Kochen. Außerdem arbeitete sie jeden Tag in der Bibliothek, sortierte die Bücher zurück in die Regale und überwachte die Jungen bei ihren Studien und Hausarbeiten. Mit anderen Worten: Sie war die perfekte Lehrergattin. Und doch …
„Ich verstehe das nicht. Ich dachte, dass er mich liebt.“ Sie räumte die sauberen Teetassen sorgfältig in den Schrank.
Kingsley konnte
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