Sklaven der Begierde
bleiben? Oder würde sie ihn verlassen – zum zweiten Mal?
NORDEN
DDIE VERGANGENHEIT
Die Angst, die Kingsley so irrational vorgekommen war, als sie ihn vor der Kapelle gepackt hatte und fast daran gehindert hätte, hineinzugehen, hatte sich in schrecklicher, ungeahnter Weise als berechtigt erwiesen. Einen Monat nach dem Tag, an dem Marie-Laure nach St. Ignatius gekommen war und Søren zum ersten Mal gesehen hatte, kehrten die Geschwister zur Kapelle zurück, wieder Hand in Hand. Es war der 21. Dezember, Mitternacht – Marie-Laure hatte den Zeitpunkt gewählt. Sein Geburtstag, sagte sie lächelnd. Und die längste Nacht des Jahres, sagte Kingsley und starrte sie so lange an, bis sie errötete. Seine Schwester, die mit halb Paris im Bett gewesen war, lief tatsächlich rot an.
„Gibt es ein besseres Datum für eine Hochzeitsnacht?“, hatte sie schließlich gefragt, und Kingsley drehte sich der Magen um.
Und nun stand er hier mir ihr, im Vorraum der Kapelle, und wartete. Er sah auf seine Uhr und trauerte der Zeit hinterher. Nur noch eine Minute bis Mitternacht.
Sie war schön, das konnte er nicht abstreiten. Schöner, als er sie je gesehen hatte. Ein Schneesturm hatte die gesamte Schule im Tal eingeschlossen, sodass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, sich ein Hochzeitskleid zu besorgen. Stattdessen trug sie eines ihrer Alltagskleider. Schleier und Schleppe hatte sie aus ein paar alten Spitzenaltartüchern genäht. Von Hand. Sie trug kein Make-up, weil ihr das bereits vor einer Woche ausgegangen war, und natürlich hatte ihr in der eingeschneiten Jungenschule niemand aushelfen können. Ihr ungeschminktes Gesicht leuchtete wie noch nie, und nie zuvor hatte sie so unschuldig ausgesehen. Unschuldig … beinahe jungfräulich. Ihre Hände krampften sich ineinander. Zeigte sie etwa Angst? Seine Schwester, die im Laufe ihrer zwei Jahre in der Ballett-Kompanie so gut wie nackt vor Zehntausenden Ballettbesuchern getanzt hatte, war nervös?
Kingsley nahm ihre Hand in seine. Ihre Finger waren eiskalt.
„Fürchtest du dich?“ Er bemühte sich, Zuneigung und Loyalität vorzutäuschen, doch unter seinem ruhigen Äußeren tobte ein Sturm der Wut.
„Oui , so sehr.“ Sie atmete tief ein und dann wieder aus. Eine weiße Wolke legte sich um ihren Kopf wie ein Heiligenschein.
Die Kapelle war im Winter praktisch unbeheizbar, aber Marie-Laure hatte darauf bestanden, dass die Trauung hier stattfand. Kingsley konnte nur hoffen, dass es eine kurze Zeremonie war, ansonsten würden sie alle noch vor Sonnenaufgang an Lungenentzündung sterben.
„Warum heiratest du ihn dann?“, fragte er, und seine Stimme verriet weit mehr von seinen wirklichen Gefühlen, als ihm recht war.
Doch Marie-Laure war so intensiv mit ihren eigenen Gedanken und Ängsten beschäftigt, dass sie nichts zu bemerken schien. „Ich habe noch nie jemanden wie ihn getroffen. Noch nie. Ich … liebe ihn.“
Sie drehte Kingsley ihr Gesicht zu, und ihr inniges Lächeln brachte Licht und Wärme in die kalte, nur von Kerzen erleuchtete Kapelle.
„Du kennst ihn doch erst seit einem Monat.“
„Das spielt keine Rolle. Ich liebe ihn seit dem ersten Moment. Und das habe ich ihm gesagt.“
„Hat er auch gesagt, dass er dich liebt?“ Kingsley fürchtete sich vor der Antwort. Zu ihm hatte Søren diese Worte nie gesagt, nicht ein einziges Mal, während sie Kingsley doch so leicht über die Lippen kamen – jedes Mal, wenn Søren in ihn eindrang. Er hatte fast so oft „Ich liebe dich“ zu ihm gesagt wie „Ich hasse dich“. Es war eigentlich egal, welche der beiden Varianten er wählte, denn Liebe und Hass bedeuteten für Kingsley in diesem Zusammenhang ein und dasselbe: Ich gehöre dir, was immer auch geschieht. Aber er wusste, dass Søren ihn liebte. Er brauchte die Worte nicht, ihm reichten die Blutergüsse und Striemen – und die Erinnerung daran, wie ihre Körper sich vereinigten, in den tiefsten Nachtstunden, wenn selbst Gott alle Wachsamkeit aufgegeben hatte und schlafen gegangen war.
Und Marie-Laure – Søren hatte seine Schwester zu ihm gebracht, mit seinem eigenen Geld. Das musste doch Liebe sein. Auch wenn Kingsley sich in diesem speziellen Fall inzwischen wünschte, Søren hätte ihn ein bisschen weniger geliebt.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Jedenfalls nicht direkt. Aber er hat etwas viel Besseres gesagt als ‚Ich liebe dich‘. Er sagte: ‚Dann können wir heiraten.‘ Er hat nicht einen Augenblick gezögert, nicht eine Sekunde. Es war,
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