Sklavin des Herzens
es keine Ausnahme geben durfte. Doch hier handelte es sich um Kasim und sein anderes Ich. Niemandem fühlte er sich enger verbunden, trotz der neunzehnjährigen Trennung.
»Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte Jamil nun mit einer Entschlossenheit, die er nicht empfand. »Omar machte mir das klar, und ich sehe es ein. Wir können die Haremseunuchen nicht einsperren. Sie kommen und gehen, wie sie wollen, und du weißt ebenso wie ich, daß manche von ihnen noch mehr schwätzen als Frauen. Tatsächlich habe ich meine Konkubinen nie länger als zwei oder drei Tage vernachlässigt. Selbst wenn ich verreise, nehme ich meine Favoritinnen mit. Wenn es nun bekannt würde, daß ich mich plötzlich nicht mehr um meinen Harem kümmerte, würde man sich wundern. In der Folge würde ich intensiver beobachtet. Der kleinste Fehler meinerseits – deinerseits – würde eine neue Bedeutung gewinnen. Jemand könnte sich erinnern, daß ich einen Zwillingsbruder hatte, der unter seltsamen Umständen starb und dessen Leiche keiner zu Gesicht bekam. Verstehst du nun, warum du alle meine Angewohnheiten übernehmen mußt, als seien sie deine eigenen? Du mußt sogar meine Frustration zur Schau stellen. Ehrlich gesagt, war ich in der letzten Zeit sehr schwierig – deshalb wird Ärger in jeder problematischen Situation deine einfachste Verteidigung sein, denn meine Wutausbrüche erscheinen inzwischen alltäglich, nicht ungewöhnlich.«
»Vermutlich habe ich keine Wahl«, meinte Derek mit düsterer Miene, »wenn ich deine Bewegungsfreiheit nicht aufs Spiel setzen will.«
»Genau. Keiner von uns beiden hat die Wahl, falls du noch gewillt bist, den Plan durchzuführen.«
»Möchtest du es denn wirklich, Jamil?«
»Ich sehe keinen anderen Weg.«
»Ich könnte Selim suchen.«
»Ja, aber du kennst ihn nicht so gut wie ich, Kasim. Du würdest doppelt so lange benötigen, ihn zu finden, und in der Zeit könnte ich tot sein. Außerdem«, fügte Jamil mit einem flüchtigen Lächeln hinzu, »werde ich verrückt, wenn ich hier nicht herauskomme, nun, da deine Gegenwart mir die Chance bietet. Es kommt mir vor, als könnte ich die wenigen Tage nicht mehr ertragen, die du brauchst, um dich mit meinen Gewohnheiten vertraut zu machen.«
»Du mußt dich bemühen, mein teurer Bruder«, erklärte Derek. »Ich will ja nicht blind in diese Sache hineinstolpern.«
Jamil nickte. Dereks englische Gelassenheit imponierte ihm. Er selbst würde sich tatsächlich bemühen müssen.
14
An diesem Nachmittag konnte Chantelle nicht schlafen, wie es die anderen Frauen taten. Heute fand die vierte Versteigerung statt, die sie seit ihrer Ankunft beobachtet hatte, und sie konnte die Zeremonie nicht aus ihrem Gedächtnis verbannen.
Sie hatte versucht, Freundschaften zu schließen, als sie in diesen Raum gebracht worden war. Sie hatte mit vielen Frauen gesprochen, mit denen sie die gleichen Ängste teilte. Für eine Weile schien es leichter zu wissen, daß sie mit ihren Gefühlen nicht allein war.
Doch dann hatte sie mit angesehen, wie fast alle dieser Frauen, mit denen sie geredet hatte, abgeführt und im Hof verkauft worden waren. Danach hatte sie aufgehört, sich mit Neuankömmlingen zu unterhalten.
Ihr schauderte vor ihrer eigenen Veräußerung. So oft hatte sie versucht, das Ganze als ein Abenteuer zu betrachten, doch es wollte ihr nicht gelingen. Es scheiterte an ihrem Wissen, daß sie von einem Fremden defloriert werden würde, und das Entsetzen darüber ließ sie nicht los.
Jeanne Mauriac, eine junge Französin, die schon im Harem eines inzwischen verstorbenen Paschas gelebt hatte, beruhigte sie wenigstens in einem Punkt. Seit Chantelle den ersten Sklavinnenverkauf im Hof beobachtet hatte, fürchtete sie, ebenfalls nackt ausgezogen und solch grenzenloser Demütigung unterworfen zu werden. Eine Frau war sogar mit Drogen betäubt worden, was als noch schlimmeres Verbrechen erschien, da sie ihre letzte Abwehrmöglichkeit verloren hatte und nicht wußte, was ihr angetan wurde. Laut Jeannes Aussage würde das mit Chantelle nicht passieren.
Als die Zeit ihrer Versteigerung näherrückte, revoltierte Chantelles Magen so stark, daß ihr jedesmal übel wurde, wenn sie essen sollte.
Jeanne hatte ihren Strohsack neben den von Chantelle gelegt und schlief an ihrer Seite, und Chantelle beneidete die Französin um die Kunst, sich munter mit ihrem Schicksal abzufinden. Chantelle konnte sich nicht einmal genug entspannen, um sich die Zeit mit Schlafen zu
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