Sklavin des Herzens
nicht verzeihen.
Wenn man sie ansah, ahnte man nicht, daß sie litt, denn sie hatte seit langem gelernt, den Schmerz tief in ihrem Innern zu vergraben. Sie hielt ihn sogar vor Jamil verborgen. Seit neunzehn Jahren trug sie ihn in sich, denn damals wie heute waren ihre Söhne alles, was sie hatte. Sie hatte deren Vater nicht geliebt. Mustafa hatte sie verehrt und ihr gehuldigt, doch sie hatte ihn nur ertragen. Es waren ihre Söhne, für die sie lebte, und obwohl der eine für sie verloren war, besaß sie noch Jamil. Und sie würde alles für ihn tun, um sein Glück zu sichern, ihn für den Kummer zu entschädigen, den sie auch ihm zugefügt hatte.
Dieser Gedanke rief seine neue Sklavin in ihr Gedächtnis zurück. Sie wollte das Mädchen zuerst sehen, ehe sie mit Haji darüber sprach. Sie hatte schon gehört, daß die junge Person einmalig sei, aber das würde nur erklären, warum Jamil sie ausgewählt hatte, nicht, warum er Haji befohlen hatte, den Markt nach neuen Sklavinnen abzusuchen.
Und was wurde aus Sheelah, die er letzte Nacht in sein Bett gerufen hatte? Rahine hatte Sheelah ins Herz geschlossen, die all das wirklich war, was sie zu sein schien – freundlich, liebesfähig, verständnisvoll. Im ganzen Harem gab es keine Frau wie sie, und das war sicher der Grund, warum Jamil sich schließlich in sie verliebt hatte. Und seitdem er sich dieser großen Liebe sicher war, hatte er sich keine neue Frau mehr gekauft.
Warum nun dieser plötzliche Sinneswandel? War es nur die Rastlosigkeit seiner selbstauferlegten Gefangenschaft im Palast, oder steckte mehr dahinter?
Möglicherweise wußte Haji etwas, doch Rahine bezweifelte das. Jamil war sehr verschwiegen, was seine Gefühle betraf. Der einzige, dem er wirklich vertraute, war sein Großwesir, und Omar Hassan gab nie etwas preis ohne Jamils Genehmigung. Rahine fürchtete, Jamils Gefühle für seine geliebte Sheelah könnten sich ändern. Das hoffte sie nicht. Vielleicht sollte sie zuerst mit Sheelah reden, ehe sie die neue Sklavin traf.
Chantelle würgte das Essen hinunter, das man ihr gerade gebracht hatte. Die Mahlzeit, die sie letzte Nacht vorgefunden hatte, war von ihr nicht angerührt worden, und vor dem Morgengrauen war das Tablett auf mysteriöse Weise verschwunden gewesen. An den Türen gab es keine Schlösser, das heißt, es gab gar keine Türen. Chantelle schätzte es absolut nicht, daß unbekannte Personen ihren Raum betreten konnten, während sie schlief.
Hakeem hatte sie vor der Gefährlichkeit mancher Haremsfrauen gewarnt, daß Eifersucht und fanatischer Konkurrenzkampf, die in allen Harems herrschten, starke Motivationen für Verletzungen und sogar Mord bildeten. Und sie mußte damit rechnen, daß Jamil Reshids viele Frauen ihn mochten, wenn auch sie, Chantelle, ihn hassenswert fand. Höchstwahrscheinlich bestand hier ein Wettkampf zwischen allen einzelnen Insassinnen, sie selbst ausgenommen.
Aber würde irgend jemand ihr glauben, wenn sie behauptete, sie wolle nichts von Jamil, oder würde man sie als weitere Rivalin betrachten? Hoffentlich nicht! In den kommenden Wochen würden ihr genügend Schwierigkeiten begegnen, auch ohne die Sorge, sich beim eigenen Geschlecht Feinde zu machen.
»Haar! Wie können Sie es wagen, in Lalla Rahines Gegenwart keine demütige Haltung einzunehmen?«
Beim Klang des ersten Wortes, dieses gehaßten Namens, den man ihr gegeben hatte, hob Chantelle den Kopf. Vor ihr, im Eingang ihres Zimmers, standen zwei Frauen, die eine ärgerlich, die andere mit einem Ausdruck, der an ihren Sohn erinnerte: unergründlich.
»Ich hätte es vielleicht getan, wenn mir Ihre Gegenwart bewußt gewesen wäre«, entgegnete Chantelle betont unbekümmert. Gleich darauf zerstörte sie den Effekt ihrer Bemerkung, indem sie hinzufügte: »Könnt ihr Leute denn nicht anklopfen?«
Sie sah, wie Safiyes Gesicht rote Flecken bekam. Die Frau war so zornig, daß sie einen Moment lang nicht reden konnte, und Jamils Mutter entließ sie, ehe sie die Fähigkeit dazu wiedererlangt hatte, womit Chantelle gewiß eine schlimme Strafpredigt erspart blieb.
»Es ist nicht klug, wenn Sie Ihre Wächterin verärgern.«
Chantelle erhob sich, um von der Dame nicht überragt zu werden, aber das klappte nicht. Lalla Rahine war so groß wie die afrikanische Prinzessin, wenn nicht sogar größer. Außerdem bot sie den Anblick einer extrem guterhaltenen Frau für ihre mittleren Jahre, denn sie mußte mindestens fünfundvierzig sein, um einen Sohn in Jamils Alter zu
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