Sklavin des Herzens
haben. Sie sah aus wie Anfang Dreißig. Es war unglaublich. Und diese Augen, wie die seinen, von einem dunklen, dunklen Smaragdgrün, dicht bewimpert, aber ohne die Kohleumrandung, die Chantelle bei allen Frauen im Harem gesehen hatte, sogar bei den Dienerinnen.
Es bestand auch eine leichte Ähnlichkeit in den hohen Wangenknochen und dem starken, entschlossenen Kinn. Der Bogen der Augenbrauen war derselbe, nur wich Rahines Farbe, ein dunkles Gold, vom Schwarz des Sohnes ab. War die Frau vielleicht blond? Man konnte es nicht feststellen, denn ihr Haar steckte vollkommen unter einem leuchtend blauen Turban, an dem ein Vermögen in Form von Brillantenschnüren hing, die von der einen Seite herabbaumelten. Der Turban ließ die Mutter des Herrschers noch größer erscheinen. Sie hatte einen geschmeidigen, schlanken Körper, worin sie ebenfalls mit ihrem Sohn übereinstimmte.
Sie trug ein kostbares, mit Pelz besetztes Brokatgewand über einem losen Kleid aus schimmernder blau-weißer Seide und um den Hals drei phantastische Diamantketten in verschiedener Länge. Daß das Kleid in der Taille gegürtet war, bewies, daß der Harem nicht nur rundliche Frauen beherbergte. Weitere Brillanten glitzerten an den Handgelenken, den Fingern, den Ohren Lalla Rahines. Chantelle blickte nicht nach unten, ob auch ihre Zehen geschmückt waren.
Wenn man das alles bedachte, hätte sich Chantelle ziemlich eingeschüchtert fühlen können. Doch Rahine verhielt sich nicht von oben herab. Ihr Ton war gemäßigt, ihr Ausdruck neutral.
»Ist das ihre Aufgabe?« fragte Chantelle. »Ist sie meine Wächterin?«
»In gewisser Weise, ja.«
»Und Sie?«
»Ich bin Jamil Reshids Mutter.«
Chantelle machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das meine ich nicht.«
»Falls Sie wissen wollen, wieviel Macht ich besitze, meine Liebe – diese Macht ist unbegrenzt. Ich herrsche über den ganzen Harem, natürlich in Übereinstimmung mit Haji Agha. Die Ehefrauen meines Sohnes, seine Favoritinnen, alle seine Sklavinnen sind mir letztendlich unterstellt.«
Von Safiye hatte Chantelle schon gehört, daß Rahine allmächtig war. In allen wichtigen Angelegenheiten behielt sie das letzte Wort. Kein Wunder, daß Safiye geraten hatte, sich gut mit Rahine zu vertragen.
Doch Chantelle konnte sich nicht so recht vorstellen, die Frau zur Freundin zu gewinnen. Lalla Rahine verströmte eine Kälte, die auch ihr Sohn um sich verbreitete. Sie waren tatsächlich aus demselben Holz geschnitzt, diese beiden. Und wenn er sich als ein grausamer, herzloser Kerl erwies, wie sollte man dann seine Mutter beurteilen, die ihn erzogen hatte?
Während Chantelle so dachte, musterte Rahine sie zwanglos von Kopf bis Fuß, und was sie sah, verwirrte sie völlig. Mochte sie Jamil auch nicht mehr nahe sein, so kannte sie doch seinen Geschmack, was Frauen betraf, besser, als irgend jemand sonst – und an diesem Mädchen war nichts, was ihn normalerweise anzog. Die junge Person bestand nur aus Haut und Knochen, mit hohlen Wangen und einem hohlen Bauch. Bei Allahs Gnade, war sie vielleicht krank? Und sie hatte blondes Haar. Unter Jamils vielen Frauen befand sich keine einzige Blondine, aber nicht aus Mangel an Verfügbarkeit. Jamil mochte Rotschöpfe am liebsten, doch auch jede andere Farbe, wenn es nur nicht blond war. Von den drei Blondinen, die Rahine im Lauf der Jahre für ihn gekauft hatte, war jede sofort weiterverschenkt worden. Und sie wußte, warum. Es tat weh, aber sie konnte es nicht leugnen. Er lehnte diese Haarfarbe ab, weil es die seiner Mutter war.
Rahine war nun noch erstaunter über dieses Mädchen als zu dem Zeitpunkt, als sie es noch nicht gesehen hatte. Sheelah konnte auch keinen Hinweis geben. Abgesehen von der Tatsache, daß Jamil infolge einer Rastlosigkeit, die ihn nachts plagte, seit kurzem nicht mehr mit ihr schlief, hatte seine Zärtlichkeit ihr gegenüber sich überhaupt nicht vermindert. Warum hatte er dann diese junge Person ausgewählt? Oder war sie nicht für ihn bestimmt?
Wenn Rahine allein gewesen wäre, hätte sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn geschlagen. Natürlich! Das Mädchen konnte als Geschenk für jemanden gedacht sein, vielleicht sogar als Bereicherung des jährlichen Tributes für den Sultan. Das würde alles erklären.
Während ihre Verwirrung sich legte, begann Rahine einige Möglichkeiten in dieser jungen Frau zu sehen. Sie besaß außergewöhnlich feine Gesichtszüge – das war unbestreitbar. Ein guter Körperbau, anmutige
Weitere Kostenlose Bücher