Sklavin des Herzens
Entschluß feststand. Dann dauerte es noch ein paar Stunden, bis sie fertig war zu gehen. Hauptsache, es gelang ihr, das Haus unbemerkt zu verlassen und sich irgendwo zu verstecken. Sie wußte auch schon einen perfekten Platz – die Höhlen. Einige Dinge, die sie als Kind dort verstaut hatte, waren vielleicht noch da: Decken, Zündmaterial, Geschirr, ihre Muschelsammlung. Decken wären wichtig, denn sie wollte den Rest der Nacht und den ganzen morgigen Tag dort verbringen, während die Burkes vergebens nach ihr suchen würden.
Morgen nacht wollte sie Dover mit unbestimmtem Ziel verlassen. Vermutlich würde sie nach London gehen und sich mit Tante Ellen in Verbindung setzen. Deren Freunde würden ihr sicher einen Job verschaffen.
Chantelle lächelte zum erstenmal seit langen Stunden. Die Zeit mit ihrer Tante hatte sie einiges gelehrt, für das sie nun dankbar sein konnte. Noch vor einem Jahr hätte sie möglicherweise das Schicksal, das Charles für sie ausersehen hatte, akzeptiert – nicht aber jetzt.
Natürlich war die Situation erschreckend. Die von ihrem Vater verwöhnte und angebetete junge Frau hatte nie Härte kennengelernt und nie Entscheidungen getroffen. Zwar hatte sie bei ihrer Tante auf den gewohnten Luxus verzichten müssen, doch das hatte sie nicht als Manko empfunden. Keine Bediensteten zur Verfügung zu haben, kochen zu lernen, zu putzen, auf den Markt zu gehen und das Essen einzukaufen, war ein Abenteuer gewesen, aber nur, weil Chantelle diese Erfahrungen mit ihrer Tante hatte teilen können. In jedem anderen Fall hätte sie sich gewiß betrogen gefühlt. Ellen war eben etwas Besonderes, und Chantelle liebte sie innig. Ihre Tante hatte die Welt bereist; sie war unabhängig; sie war keine Frau, die nur den geraden und schmalen Weg ging, sondern die alle Möglichkeiten in Betracht zog, die guten wie die schlechten.
Oh, wenn Chantelle nur auf Ellen gehört und deren Begleitung nach Dover angenommen hätte. Vielleicht wäre der älteren Frau eine Lösung eingefallen. Nein, das stimmte nicht. Niemand konnte etwas dagegen tun, wenn Charles als Vormund unerbittlich Chantelles Ehe mit dem alten Wolrige verlangte. Da gab es kein Entrinnen. Chantelle mußte für zwei Jahre verschwinden, bis sie volljährig war, und hoffen, daß Wolrige einer Heirat mit einer abwesenden Braut nicht zustimmte.
Falls bis dahin von ihrem Erbe, das die Burkes so großzügig verzehrten, nichts mehr übrig sein würde, mußte sie sich damit abfinden. Eine Ehe mit Cyrus Wolrige war das größere Übel, eines, das um jeden Preis verhindert werden mußte. Aber, bei Gott, wenn tatsächlich alles Geld verbraucht war, wenn sie wiederauftauchen konnte, würden die Burkes dafür bezahlen. Sie würden irgendwie bezahlen! Zum erstenmal in ihrem Leben empfand Chantelle Haß. Das war nicht angenehm. Es widerstrebte ihrer natürlichen Veranlagung. Für alles, was diese Menschen ihr hatten antun wollen, für alles, wozu sie Chantelle zwingen wollten, würde sie mit ihnen abrechnen.
Sie packte ein paar Kleider zum Wechseln, ein paar persönliche Dinge und den Rest des Geldes, das ihre Tante ihr gegeben hatte, zu einem Bündel zusammen und warf es aus dem Fenster, dann stieg sie selbst auf das Fensterbrett. Sie hatte Glück, daß der Frühling sich bereits in den Sommer verwandelte und sie deshalb ein dünnes, über den Hüften anliegendes Baumwollkleid tragen konnte und ihr der Abstieg dadurch leichter fiel. Sie hatte zusätzlich Glück, daß der Halbmond nur schwach leuchtete und ihr helfen würde, ungesehen den Boden zu erreichen. Es war schön, in dieser Situation irgendwelche, wenn auch noch so geringe Vorteile zu entdecken.
Doch beinahe sofort zeigte sich das erste Hindernis. Chantelle hatte nicht mit dem Fortschreiten der Zeit und dem Wachstum von Bäumen gerechnet. Ihr Baum, der immer in Reichweite gewesen war, stand noch da, aber er war kaum mehr wiederzuerkennen. Der Ast, der das Haus berührt hatte und so leicht zu erklimmen gewesen war, hing nun hoch über ihrem Kopf. Nicht einmal auf Zehenspitzen konnte sie ihn ergreifen. Ein niedrigerer Zweig würde erst in mehreren Jahren zum Fenster hinaufwachsen – er befand sich einen Meter unterhalb des Fenstersimses. Wenn Chantelle an diesem Baum herabklettern wollte, würde sie auf ihn springen müssen.
Vor zehn Jahren hätte sie nicht gezögert, denn Kinder bedenken selten die Folgen ihrer Abenteuer. Jetzt stellte Chantelle sich vor, daß sie sich das Genick oder zumindest einige
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