Sklavin des Herzens
Großvater von einem dankbaren Monarchen verliehen bekommen, doch er war auch vorher schon begütert gewesen, und seinen Reichtum hatte Chantelle geerbt. Charles war vor knapp dreißig Jahren aus England geflohen, um dem Gefängnis zu entgehen, das ihm wegen seiner Schulden drohte.
Wenn man ihn heute ansah, mochte man das nicht glauben. Er war groß, blaß und wirkte älter als ein neunundvierzigjähriger Mann mit seinen typischen Merkmalen der Burkes: braunem Haar und blauen Augen. Er trug – genau wie seine Familie – die feinste Mode, und alle strahlten das Selbstbewußtsein und die Herablassung der Neureichen aus.
Da war Charles’ rothaarige Frau Alice, die, nach dem Bericht des säumigen Rechtsanwalts, von einem Kneipenwirt in Virginia abstammte, in dessen Lokal Charles ein einfacher Angestellter gewesen war. Zwei Töchter der beiden waren anwesend: die vierzehnjährige Marsha und die neunzehnjährige Jane, hausbackene Mädchen, deren reizloses Aussehen nicht einmal das rote Haar und die haselnußbraunen Augen ihrer Mutter verbessern konnten.
Es gab noch eine ältere, zum zweitenmal verheiratete Tochter, die in Amerika geblieben war, laut Angaben des Rechtsanwalts. Charles’ Sohn Aaron hatte seine Frau Rebecca und seine beiden Kinder nach England mitgebracht.
Eine weitere Person hielt sich in Chantelles Elternhaus auf, ein Mensch, den Charles als zukünftigen Gatten für Chantelle ausgewählt hatte: Cyrus Wolrige, der so alt war, daß er der Großvater der jungen Frau hätte sein können.
Der Wüstling starrte Chantelle während der ganzen Unterredung mit lüsternen Blicken an. Sie kannte ihn. Er wohnte keine Viertelmeile entfernt, und sie hatte ihn oft in der Kirche gesehen, wo er während der Predigt schnarchte und später auf dem Kirchhof mit den jungen Frauen liebäugelte. Emmy, ihr Dienstmädchen, hatte ihn immer einen schmutzigen alten Kerl genannt.
Und jetzt waren Charles’ erste Worte ihr gegenüber gewesen: »Ah, Chantelle, meine Liebe – ich stelle dir deinen Verlobten, Mr. Wolrige, vor. Morgen früh wirst du heiraten.«
Chantelle lachte über die Absurdität dieser Bemerkung, doch Cyrus Wolrige war nicht beleidigt. Er saß lächelnd da, völlig überzeugt, daß Chantelle morgen seine Braut sein würde. Sein Blick ließ sie frösteln, und sie wurde sofort ernst.
Chantelle wandte sich ihrem Onkel zu, und ihre violetten Augen sprühten Blitze. »Sie belieben zu scherzen, Sir, und auf eine üble Weise.«
»Ich versichere dir, daß der heilige Ehestand keinen Anlaß zum Scherzen gibt«, erklärte er.
Sie hatte ihre gute Erziehung wie einen Mantel um sich gehüllt, um nicht zornig zu schreien. »Dann versichere ich Ihnen, daß ich Mr. Wolriges Antrag ablehne.«
»Das kannst du nicht, meine Liebe«, sagte Charles mit einem gezwungenen lächeln und einem entschuldigenden Nicken zu Mr. Wolrige hin. »Ich habe schon in deinem Namen akzeptiert.«
Er fügte hinzu, ihr Einverständnis sei nicht vonnöten. Sie sei noch minderjährig und dem Willen ihres Vormunds absolut unterworfen.
Das war zuviel. Sie alle saßen da und betrachteten Chantelle mit hämischem Vergnügen, nur Aaron machte einen betretenen Eindruck – den Grund hierfür erfuhr Chantelle später von Emmy.
Emmy war am Anfang mit nach Norfolk gekommen, hatte sich aber bald nach Dover zurückbegeben, weil ihre Mutter erkrankt war. Da Ellens Häuschen jedoch für drei Leute wirklich zu klein war, hatte sie anschließend den Dienst in Chantelles Heim wiederaufgenommen und betreute nun die neuen Herrschaften.
An diesem Abend brachte sie Chantelle ein Tablett mit Essen aufs Zimmer und erklärte, die Burkes hätten wirklich vor, die junge Frau zu verheiraten. In der Familie hatte es einen heftigen Streit gegeben, weil Aaron schon verehelicht war. Nach Charles’ Ansicht wäre es ideal gewesen, wenn sein Sohn Chantelle zur Frau genommen hätte. Es war sogar von Aarons möglicher Scheidung die Rede gewesen, und seitdem hing der Haussegen zwischen Aaron und Rebecca schief.
Das alles interessierte Chantelle nicht. Es änderte auch nichts an den Plänen, die bezüglich ihrer Heirat gefaßt worden waren. Die junge Frau war wütend und machte kein Hehl daraus, aber es nützte ihr nichts. Sie war in ihrem Zimmer eingesperrt und sollte am Morgen diesem Wollige geopfert werden. Jedenfalls glaubte das die saubere Gesellschaft. Aber am Morgen würde Chantelle nicht mehr da sein.
Es wurde Mitternacht, bis sie sich soweit beruhigt hatte, daß ihr
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