Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
sah:
Wie eine misslungene Interpretation des Gekreuzigten hing da ein menschlicher Torso, aufgespannt an schimmernden Ketten wie die Schweinehälften in einem Schlachthof. Vom Kopf war aus dieser Perspektive nichts zu sehen, er hing mit zurückgebogenem Hals nach hinten zwischen den Schulterblättern. Rumpf und Arme schienen von hier aus gesehen unversehrt bis auf tiefe blutige Striemen, dort, wo die massiven Rohrschellen die Handgelenke umschlossen.
Der Unterkörper fehlte …
Unterhalb des Nabels gähnte eine zerfranste, rote Höhle, aus der Reste von Innereien heraushingen wie Leitungen aus einem kaputten Verteilerkasten. Am Boden hatte eine amorphe schwarzbläulich glänzende Masse den Schnee fast kreisrund geschmolzen. Die Beine waren relativ unversehrt, bis auf tiefe Bissspuren an den Innenseiten der Oberschenkel, durch die grellweiß im unbarmherzigen Licht der Scheinwerfer Knochen blitzten.
Das Ganze wirkte wie ein von einem Künstler des frühen Mittelalters geschaffene Zeichnung abschreckender Hinrichtungsmethoden, wie sie oft in Museen und mehr oder weniger geschmacklosen Ausstellungen zu sehen waren. Hieronymus Bosch lässt grüßen.
Die schwache Bewegung an der Grenze des beleuchteten Bereiches war Glimm zunächst entgangen. Dann erklang ein leises Meckern. Glimms Kopf zuckte nach rechts und was er dort sah, war noch fürchterlicher, als der Anblick des verstümmelten Körpers: Eine weiße Hausziege saß wiederkäuend auf einer schneefreien Fläche unter einer Art Carport, der als Unterstand für einen großen Motorrasenmäher diente. Schnauze und ein Großteil des Vorderkörpers troffen vor Blut, das einen fast schmerzhaften Kontrast zu dem weißen Fell des Tieres bildete. Für Glimm reduzierten sich die Farben dieses grotesken Schauspiels auf rot und weiß. Mit der Geschwindigkeit eines Expresslifts stieg sein Mageninhalt in ihm hoch. Mit beiden Händen vor dem Mund stürzte er zurück in den Salon, trampelte mit hallenden Schritten über das Parkett und verschwand im Flur.
Lächelnd hob Anna-Sophia Barlow ihr Weinglas, prostete in Richtung der Ziege und nahm einen tiefen Schluck.
„Bon appétit.“ Traurig streifte ihr Blick die aufgeweichte Cohiba im Schneematsch. „Ein Jammer …“, ein letztes Mal nahm sie das grausige Panorama in sich auf, sog tief die klare Luft in ihre Lungen und schaltete die Halogenbrenner aus. Kleine Pfützen aus geschmolzenem Schnee markierten den Weg, den ihr Ehrengast genommen hatte. Beruhigt vernahm sie das ferne Rauschen der Wasserspülung. Wenigstens schien er es bis zur Toilette geschafft zu haben. Nichts hasste sie in ihrem Domizil mehr als Schmutz und Sauerei.
Leichenblass, sein Handy mit zitternden Fingern bearbeitend, erschien der massige Mann in der Tür.
„Gib dir keine Mühe, Herr Anwalt. Hier draußen gibt es kein Netz. Setz dich und trinke etwas, du siehst aus, als könntest du etwas Kräftiges vertragen.“ Sanft und mit amüsiert hochgezogenen Mundwinkeln kamen diese Worte aus ihrem perfekten Mund. Sie deutete auf eine bauchige Flasche mit goldgelbem Inhalt. „Auchentoshan, achtzehn Jahre alt. Gernot hat ihn geliebt …“
Die Erwähnung des Namens trieb Glimm schon wieder kalten Schweiß auf die Stirn. Entschlossen schüttelte er den Kopf.
„Setz dich.“ Die Stimme war nicht lauter als vorher, der Mund lächelte noch immer. Die Autorität hinter der Aufforderung hätte jedoch jeden amerikanischen Drillsergeant beschämt.
Hölzern ließ Glimm sich auf einen der Stühle fallen. Seine gewaltige Brust hob und senkte sich, die Hände abwechselnd zu Fäusten geballt und dann wieder hilflos miteinander ringend, starrte er die Barlow aus rot geäderten Augen an.
„Du bist viel zu aufgeregt. Lass mich das erledigen.“ Mit diesen Worten griff sie unter ihre Serviette und hielt das Mobilteil einer Festnetztelefonanlage in der Hand. Ohne das leiseste Zittern wählte sie eine dreistellige Nummer und drückte dann die Lautsprechertaste. Dabei lächelte sie wie eine zufriedene Mama, die gerade für ihre Buben Karten fürs Länderspiel ordert.
Viermal hörte Glimm den Rufton, dann erklang die gelangweilte Stimme eines älteren Mannes mit breitem badischem Akzent: „Polizeinotruf, Hainbacher, was kann ich für sie tun?“ Der Satz klang wie ein einziges Wort und Glimm hatte Mühe den Mann überhaupt zu verstehen. Dafür verstand er Anna-Sophia Barlow umso besser: Mit dem freundlichen Unterton einer Call-Center-Angestellten rüttelte sie den hörbar
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