Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
eine schlechte Gastgeberin.“ Sie erhob ihr Weinglas und prostete ihm zu. „Aus naheliegenden Gründen möchte ich Sie bitten, nach nebenan zu gehen und das Dessert zu holen. Ich folge Ihnen in sicherem Abstand, damit Sie nicht auf dumme Gedanken kommen.“
Das Dessert. Diese Teufelin hatte einen Menschen auf grausame Art ermordet, richtete eine entsicherte Waffe auf ihn und er sollte das Dessert servieren.
Die Teller klapperten in seinen Händen, als er schwer atmend wieder den Salon erreichte. Wie eine Gepardin auf der Jagd umschlich die Barlow die Szene, immer auf ausreichenden Abstand und ein freies Schussfeld achtend. Glimms gestresstes Hirn lieferte ihm die Erinnerung an Szenen aus „Dinner fo one“, nur dass hier niemand lachte.
Stocksteif saß er wieder auf seinem Stuhl, während die Mörderin ihre Kreation anpries: „Grand-Marnier-Parfaît mit Rhabarber und Erdbeersauce. Der Wein dazu ist eine Ambrosia Sämling Trockenbeerenauslese aus dem Burgenland. Sie sehen, ich verwöhne meine Gäste. Auf Ihr Wohl, Herr Anwalt.“
Er nahm einen Schluck Wein, da seine Kehle sich mittlerweile anfühlte, als hätte jemand sie mit Sandpapier bearbeitet. Der weiche, süße Trank tat ihm gut. Anders als das Dessert mit der Erdbeersauce, die ihn fatal an das erinnerte, was nur wenige Meter von ihnen entfernt draußen, vor den hohen Fenstern, in der eisigen Kälte hing.
„Vor vielen Jahren lebte in diesem Schloss einmal eine schöne Frau …“ Sie machte eine Pause, kostete genießerisch von dem Dessert und fuhr fort mit einer Stimme, die jeder Märchenerzählerin zur Ehre gereicht hätte.
„Die Frau war glücklich und zufrieden, denn sie hatte einen Mann, der sie über alles liebte und mit ihm zusammen eine kleine Tochter, die so schön und so klug war, dass es der Frau das Herz wärmte und sie zu Gott betete und ihm dankte für dieses schönste aller Geschenke…“ Glimm hatte die englische Porzellanuhr auf der Anrichte fest im Blick. Unglaublich, dass seit der grässlichen Entdeckung im Garten erst wenige Minuten verstrichen waren.
„Doch dann starb der Mann und dunkle Wolken verfinsterten das Leben der Frau und ihrer Tochter für eine lange, kalte Zeit.“ Rede, dachte Glimm voller Inbrunst. Rede, rede, rede! Er würde ihr zuhören, selbst wenn sie hier die Bibel auf Latein rezitieren würde. So lange Anna-Sophia Barlow sprach, so lange blieb er am Leben. Er hoffte, dass die Polizei das Richtige tat, hoffte auf einen finalen Rettungsschuss eines SEK-Schützen, wusste aber gleichzeitig mit schmerzlicher Gewissheit, dass wohl zuerst ein Streifenwagen mit vollem Konzert hier aufkreuzen würde, dessen Insassen an die Eingangstür klopfen würden und höflich um Einlass bäten. Was ihn innerlich auffraß, war die Ungewissheit. Was hatte dieses Monster vor? Wollte sie ihre Geschichte loswerden, ihr Gewissen erleichtern, bevor sie die Waffe gegen sich selbst richten würde? Oder würde sie ihn vorher kaltblütig abknallen? Was hatte er ihr getan? Warum sprach sie von zwei getöteten Menschen, warum lächelte sie so verständnisvoll, als er seine Schlüsse gezogen hatte, die sie ihm unmittelbar von seinem Gesicht abgelesen hatte? Ihre warme kultivierte Stimme füllte den Raum. Wie betäubt hing er an ihren Lippen, schlürfte ab und an den süßen Wein, während das Dessert vor ihm zu einer streifigen Pfütze zerfloss.
„Die Frau lebte danach lange alleine mit ihrem kleinen Mädchen, welches sich prächtig entwickelte und bald gar nicht mehr so klein war. Die Frau war reich und kein Wunsch des Mädchens blieb unerfüllt. Nur einer …“ Wieder führte sie den Löffel zum Mund. Glimms Magen entwickelte ein grummelndes Eigenleben.
„Das Mädchen wünschte sich seinen Papa zurück. So sehr, dass es traurig und melancholisch wurde, so dass es der Frau schier das Herz brach. Doch dann stand ein Prinz vor den Toren des Schlosses. Es war natürlich kein richtiger Prinz, aber die Frau empfand es so. Der Prinz war ein alter Freund aus fernen Jugendjahren und er warb um die Gunst der Frau. Der Mann mochte Kinder und fand nach vielen Wochen sogar Zugang zum Herzen des Mädchens. Es war, als ginge nach Jahren der Dunkelheit endlich wieder die Sonne auf. Die Frau nannte er seine Königin, das Mädchen war seine Prinzessin. Sie lebten in einem richtigen Schloss und waren die glücklichsten Menschen der Welt.“ Etwas in ihrer Stimme zerbrach. Glimm beobachtete trotz seiner Lage fasziniert die Verwandlung dieser
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