Slant
Verrücktheiten hatte Twist stets sehr viel Mitgefühl. Sie versteht andere und ihre Probleme sehr gut; sie hat lediglich Schwierigkeiten, ihre eigene Situation klar zu erkennen. »Wir werden heute Abend ausgehen, okay? Ich werde schon die richtige Party finden.«
Alice wirft ihr einen erschöpften Blick zu und Twist hebt ihre kleinen, schlanken Finger. »Ein netter Spin-Spaß, kein Fatz-Trubel«, sagt sie. »Würdevoll, toujours würdevoll. Wusstest du, dass Gene Kelly ein Neunziger-Star war?«
»Er starb in den Neunzigern«, sagt Alice. »Er war eher ein Star der Vierziger und Fünfziger.«
Twist akzeptiert die Korrektur mit einem schwachen Lächeln. »Hast du es jemals mit ihm gemacht, auf Rollen-Sim?«
»Bin nicht autorisiert«, sagt Alice.
»Ich auch nicht. Ich würde gerne für eine Weile hier bei dir bleiben, wenn das in Ordnung geht, wenn ich dir damit keine Schwierigkeiten mache.«
»Gerne. Ich kann jetzt etwas Gesellschaft gebrauchen.«
»Du bist eine wahre Freundin«, sagt Twist. »Das ist in unseren Kreisen eine Seltenheit, weißt du?« Sie hebt ihre Kosmetiktasche und verstreute Kleidung auf und geht ins Bad, um sich anzuziehen.
Alice hört auf zu lächeln, sobald Twist den Raum verlassen hat. Sie berührt durch den Stoff des Morgenmantels ihren Unterleib und reibt ihn. Sperma bleibt mehrere Tage lang aktiv.
Sie trägt die letzten lebenden Überreste eines Toten in sich.
4 /
Das Sprechzimmer ist in blassem Grün und Gelb gehalten, das angeblich beruhigend wirken soll, aber Jonathan fühlt sich hier wie am Grund eines seichten Sees, in nichtssagendem Wasser. Die Ärztin ist höflich, eine kleine Frau mit gewipptem weißem Haar und einer direkten, unverblümten Art. Zumindest das wirkt beruhigend auf ihn.
»Wussten Sie, dass Ihre Frau mit zwanzig Jahren wegen einer Amygdala-Störung therapiert wurde?«, fragt die Ärztin. Sie zeigt ihm ihr Pad, damit er diesen Abschnitt ihrer medizinischen Daten betrachten kann.
»Nein«, antwortet Jonathan. »Sie hat mir gesagt…« Um genau zu sein, hat sie ihm niemals irgendetwas über solche Angelegenheiten erzählt. Sie hat bei ihm stets den Eindruck erweckt, eine Natürliche zu sein; vielleicht keine Hochnatürliche, aber zumindest eine Untherapierte. Aber mit zwanzig… das bedeutet, dass sie therapiert wurde, nachdem sie sich kennengelernt hatten. »Sie hat es mir nicht gesagt«, fasst er zusammen.
»Ja, nun, das ist keineswegs ungewöhnlich. Wir schämen uns immer noch wegen solcher Dinge, was natürlich völliger Unsinn ist.« Die Ärztin blickt auf und sieht ihn unverwandt an. »Was wissen Sie über die Therapien? Wurden Sie selbst jemals behandelt, auf irgendeine Weise?«
»Nein«, sagt Jonathan. »Nicht dass ich niemals darüber nachgedacht habe. Ich meine, ich habe keine Vorurteile. Gegen Menschen, die eine Therapie gemacht haben. Ich weiß nicht, warum sie es mir nicht sagen wollte.«
Er presst die Lippen fest zusammen und hofft, dass er nicht zu nervös wirkt. Natürlich ist er nervös; Chloe liegt ein paar Zimmer weiter in einem Spezialplug. Sie schläft nicht, aber sie wird künstlich beruhigt.
»Wir haben ihre Daten soeben hereinbekommen. Damals hat sie um eine Therapie gegen impulsiv-destruktives Verhalten gebeten, eine Art Trotzhaltung. Sie glaubte, ihr Verhalten stünde im Widerspruch zu den Einsichten ihrer bewussten Persönlichkeit.«
Jonathan starrt auf die Tür.
Die Ärztin verbindet ihr Pad mit einem Wandbildschirm und ruft eine Reihe von Diagrammen auf. Doch er kann nur wenig mit den gezackten Linien und farbigen Balken anfangen. »Sie hatte einen erheblichen Relaps, den wir in die Kategorie eines therapeutischen Rückfalls einordnen. Die gesamte Therapie versagte und offenbar löste dieses Versagen einen Kollaps der Bewusstseinsfunktionen aus. Früher hat man so etwas durchaus zutreffend als Nervenzusammenbruch bezeichnet.«
»Was hat es mit dieser >allostatischen Vernarbung< auf sich?« Jonathan zeigt auf den Schriftzug unter der gezackten Linie des größten Graphen.
»Neuronen und Axonen können wie jeder andere Körperteil unter Abnutzungserscheinungen leiden. Das ist sogar einer der häufigsten Gründe für eine Therapie. Nach der Verfassung Ihrer Frau zu urteilen würde ich sagen, dass sie unter Habituation und Abnutzung einer Axonenbahn leidet, verursacht durch zyklische Impulse und Verhaltensweisen, mit denen sich ihre soziale Persönlichkeit nicht anfreunden konnte.«
Jonathan nickt, aber er hat es nur zum
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