Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
1881 geboren wurde, erinnert sich an eine Welt, in der die Geschwindigkeit, die wir heute so verehren, als unkultiviert und vulgär galt. Der Müßiggang kann uns dabei helfen, wieder an Noblesse zu gewinnen, uns von den Maschinen abzukoppeln und uns dem Chaos und der Natur auszusetzen. Einige der schönsten Passagen in diesem Buch sind Dans Beschreibungen der Goldadler in Schottland. Das müßige Reisen, argumentiert Dan, kann uns dabei helfen, uns wieder mit der unberührten Natur zuvereinen, die von der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend verdrängt wird.
Vor allem aber weckt das müßige Reisen, und man könnte auch sagen: das wahre Reisen, den Poeten und den Philosophen in uns. Wir sind alle Philosophen, doch die unzähligen kleinen Sorgen des modernen Lebens lassen uns das oft vergessen, weil wir Ablenkung von unseren Problemen suchen, anstatt uns ihnen zu stellen. Wie meine Freundin Penny zu sagen pflegt: Wenn man eine Schmerztablette nimmt, ist der Schmerz immer noch da, man spürt ihn nur nicht mehr . Wir alle brauchen unsere Trostpflaster, seien es Alkohol, Drogen, Affären, Kartenspiel, diverse Abhängigkeiten, Urlaube, Luxushotels oder Reiseerlebnisse, einfach nur um unser Leben zu bewältigen. Aber der müßige Reisende verzichtet wohl oder übel auf diese Pflaster und begibt sich auf eine Reise in die eigene Seele. Wenn er dabei einen Blick in die Hölle erhaschen muss, sei’s drum. Er wird auch den Himmel erblicken. Und nach einem langen und beschwerlichen Aufstieg wird die Aussicht umso großartiger sein.
Kapitel 1
Reise nicht nur, um anzukommen
Hey man, slow down.
Radiohead, The Tourist
Wie die meisten Menschen habe ich erst dann das Gefühl, wirklich unterwegs zu sein, wenn ich den Flughafen weit hinter mir gelassen habe. Die Züge von London nach Chichester, wo ich lebe, fahren über Gatwick. Ein vertrautes Gefühl der Erwartung stellt sich ein, während der Zug durch Horsham, Crawley und Three Bridges fährt. Zuerst ist es unmöglich festzustellen, welcher der Mitreisenden am Flughafen aussteigen wird. Dann fallen mir die riesigen Koffer ins Auge, und während wir uns dem Flughafen nähern, werden die Menschen um mich herum unruhig. Sie kauen an ihren Nägeln und starren angestrengt auf die Namen der Stationen, die auf der Anzeige vorbeilaufen. Die Geschäftsreisenden verraten sich dadurch, dass sie plötzlich anfangen, wie wild zu telefonieren. Sie prahlen mit ihrem wichtigen Trip und lassen sich dazu hinreißen, eine glanzvolle Schilderung von etwas abzugeben, das sich höchstwahrscheinlich als eine langweilige Geschäftsverhandlung in einem Gewerbegebiet in der Nähe eines provinziellen Flughafens erweisen wird.
Kurz darauf kann ich das blecherne Rauschen einesDüsenjets hören. Es wird so laut, dass die nervösen Urlauber in einer Mischung aus Schrecken und Ehrfurcht vor sich hin starren. Die Männer in ihren Anzügen atmen hörbar aus. Die Leute fangen an, über den Sicherheitscheck zu murren, während sie zum x-ten Mal sicherstellen, dass ihr Pass sich in ihrem Handgepäck befindet. Dann geht eine Welle der Bewegung durch die Menge, jeder greift nach seinen Taschen und Koffern. Beim Aussteigen werden die Passagiere kopflos wie Tiere, die das Herannahen eines Orkans spüren. Die Geschäftsmänner geben sich überlegen, drängeln sich aber dennoch rücksichtslos durch das ganze Durcheinander. Auf dem Bahnsteig kämpfen Koffer um die Vorherrschaft über den Fahrstuhl, doch dort wartet bereits eine Schlange von Leuten aus dem letzten Zug. Endlich ist die letzte Tasche davongetragen. Die Türen piepen und schließen sich, und der Zug fährt an.
Alle haben es auf den Bahnsteig geschafft. Das heißt alle außer mir. Ich steige nie am Flughafen aus. Erst wenn ich Gatwick hinter mir gelassen habe, weiß ich, dass ich tatsächlich unterwegs bin.
Wie Millionen anderer Menschen aus dem Vereinigten Königreich, die jedes Jahr nach Europa reisen, war ich auf dem Weg an die spanische Mittelmeerküste. Im Unterschied zu diesen Millionen wollte ich mit dem Nachtzug nach Marbella fahren.
Ich habe seit 20 Jahren kein Passagierflugzeug mehr von innen gesehen und bevorzuge es, auf dem Land- oder Seeweg zu reisen, ganz gleich wohin. Diese Tatsache scheint auf die inländische Presse ausreichend skurril gewirkt zu haben, um mir in den vergangenen zehn Jahren vieleAufträge für Reiseartikel zu sichern. Newsweek ließ sich einmal sogar dazu hinreißen, mich als den »Meister des langsamen Reisens« zu
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