Small World (German Edition)
ihn nicht der tosende Applaus zu zwei Zugaben gezwungen.
Später, beim Farewell Drink im großen Speisesaal, sah Konrad das Männchen wieder. Umringt, bedrängt und gefeiert von den gleichen Leuten, für die er vor einer Stunde noch Luft gewesen war. Ein polnischer Emigrant, hieß es, ein Internierter, den ein Lehrer des »St. Pierre« im Krieg als Bewacher in einem Lager in der Ostschweiz kennengelernt hatte. Niemand also.
Konrad Lang hatte sich für das Taxi entschieden. Er saß im Fond und ließ sich die kurvige Straße hinunter in die Stadt fahren, die sich langsam in der Dämmerung verkroch. Er hätte das Tram nehmen und mit den knapp zwanzig Franken bei Barbara im Rosenhof hereinschauen können. Aber er war zu deprimiert. Klaviermusik in der falschen Stimmung konnte ihn genauso deprimieren, wie sie ihn in der richtigen glücklich machen konnte. Heute hatte sie ihn deprimiert, weil er sie nach einer Demütigung gehört hatte. Sie ließ alte, schlimmere, längst verdrängte Demütigungen wieder hochkommen. Demütigungen, die er sich – da war er ganz sicher – hätte ersparen können, wenn er hätte Klavier spielen können.
Während der Sommerferien 1946, die sie in der Koch-Villa in St. Tropez verbrachten, hatte er Thomas von den Vorteilen überzeugt, Klavier spielen zu können. Die Mädchen, die in dieser Zeit interessant zu werden begannen, himmelten Pianisten an, behauptete er. Thomas hatte daraufhin seine Stiefmutter mit der Mitteilung überrascht, daß er im nächsten Schuljahr Klavierstunden nehmen wolle. Was automatisch auch für Konrad galt.
Konrad war ein eifriger Schüler, ganz im Gegensatz zu Thomas. Sein Lehrer, Jacques Latour, war hingerissen von soviel Begeisterung und, das merkte er bald, Talent. Konrad konnte eine Melodie, die er nur einmal gehört hatte, nachspielen. Jacques Latour gab ihm Privatunterricht im Notenlesen. Nach kurzer Zeit konnte er vom Blatt spielen. Von Anfang an besaß er eine tadellose Arm- und Handhaltung und rasch einen vielversprechenden Anschlag. Es dauerte keine zwei Monate, bis Konrad Thomas mit flüssigen Läufen entmutigte.
Wann immer er Zeit hatte, übte Konrad im Musikzimmer, zu dem er schon bald freien Zutritt hatte, Thema und Gegenbewegung der Linken und der Rechten allein, dann zusammen, dann parallel zur Rechten, dann parallel zur Linken. Immer seltener korrigierte ihn Monsieur Latour, immer öfter hörte er ihm einfach zu, ergriffen von der Gewißheit, ein großes Talent, vielleicht sogar ein kleines Genie vor sich zu haben.
Bis zur »Mückenhochzeit«.
Bei der »Mückenhochzeit« machten sich die Hände selbständig. Die Rechte spielte ihre Melodie, die Linke begleitete sie. Und zwar nicht einfach wie ein Schatten. Sie blieb ein bißchen stehen, verschnaufte ein paar Takte, holte die Rechte wieder ein, nahm ihr gar die Melodie ab, führte sie alleine weiter, warf sie ihr wieder zu, kurz: benahm sich wie ein selbständiges Lebewesen mit einem eigenen Willen.
Bis zur »Mückenhochzeit« waren Konrad seine Hände vorgekommen wie zwei perfekt aufeinander abgestimmte Zirkuspferde, die trabten, wenn das andere trabte, sich aufbäumten, wenn das andere sich aufbäumte, und die Mähne schüttelten, wenn das andere die Mähne schüttelte. Konrads Hände erhielten von seinem Kopf identische Befehle und führten sie identisch aus. Manchmal parallel und manchmal gegeneinander, aber immer im gleichen Schritt und Tritt.
»Das kommt schon noch«, sagte Monsieur Latour, »das geht allen so am Anfang.« Aber so verbissen Konrad auch übte, seine Hände blieben zwei Marionetten, die an gemeinsamen Fäden hingen. Die »Mückenhochzeit, Scherzlied aus Böhmen«, war das Ende seiner Pianistenkarriere.
Ein halbes Jahr nach der ersten Unterrichtsstunde gab Latour seinen besten Schüler auf. Eine Zeitlang hatte er noch versucht, ihn zu einem anderen Instrument zu überreden. Aber das Piano, und nur das Piano, war Konrads Instrument. Er übte noch einige Monate heimlich auf einer Tastatur, die er sich auf eine Rolle Stoff gezeichnet hatte. Er konnte die schwierigsten Läufe im Schlaf rauf- und runterspielen. Aber sobald er einer Hand befahl, aus der Reihe zu tanzen, folgte ihr die andere wie ein Hündchen.
Konrad Lang kannte die Partituren aller Walzer und Nocturnes von Chopin auswendig und die Klavierstimmen aller bedeutenden Klavierkonzerte. Er erkannte nach wenigen Takten die berühmten Pianisten am Anschlag. Wenn er auch nicht die große Anerkennung der Kreise gewann,
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