Small World (German Edition)
zuerst ihn und, als dieser zögerte, Thomas fragend an.
Thomas war ein loyaler Freund, solange er mit Konrad allein war. Aber sobald jemand auftauchte, den er beeindrucken wollte, wechselte er mit wehenden Fahnen die Seiten.
»Er ist der Sohn einer ehemaligen Hausangestellten«, erklärte Thomas. »Meine Mutter hilft ihm.«
Damit war auch die Frage geklärt, wer das Bett an der Tür erhielt.
Von da an wurde Konrad von allen Schülern mit gönnerhafter Höflichkeit behandelt. Nie – in seiner ganzen Zeit im »St. Pierre« – war er in eine ihrer vielen Intrigen verwickelt, und nie war er das Opfer ihrer grausamen Streiche. Sie hätten es ihm nicht deutlicher zu verstehen geben können, daß sie ihn nicht als ihresgleichen betrachteten.
Konrad versuchte alles. Er übertraf die Blasiertesten an Blasiertheit, die Coolsten an Coolness, die Unverfrorensten an Unverfrorenheit. Er machte sich lächerlich, nur um sie zum Lachen zu bringen, und er provozierte Strafen, nur um sie zu beeindrucken. Er kletterte über die Mauer und kaufte Wein im Dorf. Er besorgte Zigaretten und Sexmagazine. Er stand Schmiere bei den Rendezvous seiner Mitschüler mit Geneviève, der Tochter des Hauptgärtners.
Aber Konrad blieb in dieser Schule für das Leben als reicher Mann immer derjenige, der die wichtigste Voraussetzung dazu nicht mitbrachte: das Geld.
Bei der Abschiedsparty vor den Sommerferien 1946 – das »St. Pierre« begann als internationales Institut das Schuljahr im Herbst – beschloß Konrad Lang, Pianist zu werden.
Es war ein schwüler Junitag. Die Tore vom »St. Pierre«, das von einer Mauer umgeben war, standen weit offen, und auf dem großen Kiesplatz vor dem Hauptgebäude standen dicht an dicht die Limousinen. Auf dem Rasen zur Seeseite war eine kleine Bühne mit Flügel und Konzertbestuhlung aufgebaut, daneben, unter einem Baldachin, ein kaltes Büfett. Eltern, Geschwister, Ehemalige, Lehrer und Schüler standen in Grüppchen, hielten Gläser und Teller in der Hand, plauderten und blickten immer wieder besorgt zum Himmel, an dem sich schwere Wolken türmten.
Konrad stand bei Thomas Koch und Elvira Senn, die sich mit der Mutter von Jean Luc de Rivière auf französisch unterhielt. Er trug, wie alle Schüler, den Schulblazer mit dem gestickten Goldemblem aus Kreuz, Anker und Bischofsstab und die grün-blau-gold-gestreifte Schulkrawatte. Die Mütter hatten ihr Haar hochgesteckt und geblümte, seidene Sommerkleidchen an, die paar Väter, die sich die Zeit genommen hatten, ihre Söhne abzuholen, dunkle Anzüge aus weichen, leichten Stoffen, weiße Hemden und Krawatten, hie und da in den Farben des »St. Pierre«.
Mitten in dieser eleganten, selbstsicheren Gesellschaft, unbeachtet von den lächelnden Grüppchen, die sich ungezwungen auflösten und wieder neu formierten, stand ein gebückter, kleinwüchsiger, bleicher Mann in einem schlecht sitzenden Stresemann und nippte an seinem leeren Glas. Als Konrad ihn musterte, trafen sich ihre Blicke, und der Mann lächelte ihm zu.
Beinahe hätte Konrad zurückgelächelt, er besann sich aber darauf, wie konsequent alle anderen das Männchen geschnitten hatten, und ließ, um keinen Fehler zu machen, seinen Blick gleichgültig weiterwandern.
Erste Donner grollten über den See, und schwere Regentropfen begannen die sommerliche Garderobe der Gäste zu tüpfeln. Im Nu waren der Rasen leer, der Flügel zugedeckt und die Gesellschaft lachend und prustend in der Turnhalle versammelt, wo die Schulleitung einen zweiten Flügel und alles für das Schlechtwetterszenario vorbereitet hatte.
Während der Ansprache des Direktors und der feierlichen Verabschiedung der Maturanden suchte Konrad vergeblich die Reihen ab nach dem unscheinbaren Männchen, dessen wehmütiges Lächeln er nicht erwidert hatte. Erst als der Direktor den musikalischen Teil der Feier ankündigte, einen Klaviervortrag des Pianisten Jósef Wojciechowski, sah er es wieder. Es stand plötzlich auf der Bühne, verneigte sich, setzte sich an den Flügel und wartete mit seinem Lächeln, bis sich die Unruhe gelegt hatte im Publikum, das eigentlich lieber wieder zum gemütlichen Teil der Feier übergegangen wäre.
Als es still geworden war, ließ Wojciechowski die Hände auf die Tasten sinken.
Vier stille Nocturnes von Chopin entlockte er dem Flügel. Kein Hüsteln, kein Schneuzen, nur manchmal das träge Grollen des längst besänftigten Gewitters. Nach zwanzig Minuten stand er auf, verbeugte sich und wäre gegangen, hätte
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