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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Frage«, war Rosemarie Haugs Antwort, als ihr Felix Wirth am Wochenende von Simone Kochs Besuch erzählte. Sie saßen im Wintergarten der Rehabilitationsklinik am Bodensee, tranken Kaffee und schauten auf den Nebel, der das Seeufer verhängte.
    »Jetzt packt sie das schlechte Gewissen. Jetzt denken sie, sie können mit Geld gutmachen, was sie ihm in sechzig Jahren angetan haben. Sie wollen ihn zum letzten Mal ausnützen. Diesmal zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens.«
    »Andererseits«, gab Felix Wirth zu bedenken, »wäre das für ihn die letzte Gelegenheit, wenigstens den Lebensabend in dem Stil zu führen, zu dem er erzogen wurde.«
    »Als ich vorschlug, ihn privat zu pflegen, hast du es mir ausgeredet.«
    »Wir reden von vier- bis fünfhunderttausend Franken im Jahr. Für einen Mann, den du kaum kennst und der sich nicht an dich erinnert.«
    »Weißt du, was seine letzten Worte an Thomas Koch waren? Leck mich! Ich finde, wir sollten das respektieren.«
    Der Nebel verfing sich in den kahlen Obstbäumen am Ufer.
    »Ich muß hier weg, Felix.«
    Konrad Lang saß an einem Ort, wo viele Leute waren, als etwas Interessantes passierte: Gene Kelly tanzte aus dem Fernsehapparat. Zuerst tanzte er auf einer Zeitung, die er dabei in zwei Stücke zerriß, dann tanzte er auf der einen Hälfte, die er wieder in zwei Stücke zerriß, dann auf der anderen Hälfte, die er wieder in zwei Stücke zerriß. Dann war er plötzlich im Zimmer und tanzte weiter.
    Konrad Lang sagte zu einer alten Frau, die neben ihm saß und sich mit einem Säugling unterhielt: »Haben Sie gesehen? Jetzt ist er drin.« Aber die Frau redete weiter. Und dann passierte noch etwas Interessantes: Sie war plötzlich im Fernsehapparat, und jetzt sah man, daß der Säugling eine Puppe war und die alte Frau eine Hexe mit spitzem Kinn und spitzer Nase.
    Das machte ihm angst, und er schrie: »Achtung, Achtung, Hexe, Hexe!« Da kam ein großer Mann auf ihn zu und sagte: »Halt’s Maul, sonst knallt’s.«
    Da wußte er, daß er schleunigst hier raus mußte.
    Er stand auf und ging zum Lift, aber der hatte keinen Knopf. Er ging den Gang hinunter bis zu einer Tür, die zu einer Feuertreppe führte.
    Sie war verschlossen. Aber der Schlüssel hing daneben in einem kleinen Glaskästchen. Das war auch verschlossen. Aber daneben war ein kleiner Hammer, auch in einem Glaskästchen. Er rammte den Ellbogen in die Scheibe dieses Kästchens, bis er den Hammer herausnehmen konnte. Er schlug damit das Glas des Schlüsselkästchens ein, nahm den Schlüssel und öffnete die Tür. Hinter sich hörte er das Keifen der Hexe. Er trat auf die oberste Plattform der sechsstöckigen Feuerleiter. Langsam fing er an hinunterzusteigen.
    Als er die Plattform des fünften Stocks erreicht hatte, hörte er oben Gene Kelly rufen: »Herr Lang!«
    Ein Trick der Hexe. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging er weiter.
    Auf der Plattform des dritten Stocks sah er sie kommen: Gebirgsfüsiliere in Winteruniform. Sie stiegen langsam die Treppe hoch und dachten, er hätte sie nicht gesehen. Auch über sich hörte er Schritte auf den Blechstufen. Als er hinaufsah, sah er weiße Hosenbeine. Noch mehr Gebirgsinfanterie.
    Er setzte sich aufs Geländer und wartete. Lebend kriegten die ihn nicht.
    Schon von weitem sah Rosemarie Haug, daß im »Sonnengarten« etwas nicht in Ordnung war. Auf allen Plattformen der Feuertreppe, die an der Westfassade des sechsstöckigen Gebäudes hinunter zum Erdgeschoß führte, standen Pfleger und Schwestern und Feuerwehrleute und Polizisten. Außer auf der dritten. Dort saß ein einsamer Mann auf dem Geländer.
    Vor dem Haus standen Polizeifahrzeuge, Krankenwagen und Feuerwehrautos. Als sie näher kam, erkannte sie am Fuß der Feuertreppe ein drei Meter hohes, luftgefülltes Sprungkissen. Als sie den Wagen geparkt hatte, wußte sie plötzlich, wer der einsame Mann war. Sie rannte los.
    An der Absperrung hielt sie ein Polizist auf.
    »Ich muß hier durch«, keuchte sie.
    »Sind Sie verwandt?«
    »Nein. Doch. Ich bin die Freundin. Lassen Sie mich rauf. Ich werde mit ihm reden.«
    Zehn Minuten später, nachdem der diensttuende Arzt der Polizei bestätigt hatte, daß Frau Haug die einzige Angehörige des Patienten sei, ging Rosemarie Haug ganz langsam die Treppe hinauf.
    »Jetzt hast du mir aber einen Schrecken eingejagt, Konrad«, sagte sie möglichst munter, »wenn du wüßtest, wie das aussieht von unten, halsbrecherisch, die sind alle ganz aufgeregt, die kennen deinen Humor

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