Small World (German Edition)
nicht.«
Sie hatte die zweite Plattform erreicht und näherte sich der Treppe zur dritten, vorbei am letzten Vorposten der Retter.
»Ich komme jetzt rauf, Konrad, und dann gehen wir ins Des Alpes, darauf brauche ich jetzt einen, du nicht?«
Konrad antwortete nicht. Rosemarie hatte den Absatz zum letzten Treppenstück vor der dritten Plattform erreicht und ging langsam weiter.
»Willst du mir nicht entgegenkommen, Konrad, ich schaff’s fast nicht mehr, und wenn man denkt, drinnen hat es einen Lift, und kühl ist es auch, ich komme jetzt, Konrad. Okay?«
Jetzt konnte sie ihn sehen. Er saß auf dem Geländer mit dem Rücken zum Abgrund und wirkte unbeteiligt.
Sie nahm die letzten zwei Stufen und stand auf der Plattform, keine drei Meter vor ihm.
»Uff, hier bin ich, willst du mich nicht begrüßen? So kenne ich dich ja gar nicht, bleibt einfach sitzen.«
Ohne ein Zeichen des Erkennens ließ sich Konrad Lang rücklings über das Geländer fallen.
Er war der einzige, der nicht schrie.
Konrad Lang fiel weich und verletzte sich erst leicht bei der Balgerei mit den Feuerwehrleuten, die ihn aus dem Luftkissen befreien wollten.
Vier Mann mußten ihn festhalten, damit ihm der Arzt ein Sedativum spritzen und ihn die Pfleger in sein Zimmer bringen konnten.
Rosemarie brauchte auch ein Beruhigungsmittel.
Und der Verwalter des »Sonnengartens« auch. »Das mußte ja einmal kommen«, sagte er dem Einsatzkommandanten. »So eine hirnverbrannte Vorschrift. Notschlüssel für die Feuertür in einer geschlossenen Abteilung! Montiert doch gleich Sprungbretter!«
Rosemarie Haug blieb an Konrads Bett. Bevor er einschlief, sagte er zu ihr: »Gute Nacht, Schwester.«
Als sie am selben Abend Felix Wirth am Telefon von dem Vorfall erzählte, fragte dieser, ob sie immer noch etwas dagegen einzuwenden habe, daß die Kochs sich um Konrads weiteres Schicksal kümmerten.
»Soll ich mich einem Mann aufdrängen, der bei der Wahl zwischen mir und dem Sprung aus dem dritten Stock den Sprung wählt?«
Simone hatte Konrad Lang seit ihrem ersten Besuch fast jeden Tag besucht. Sie fühlte sich mit ihm auf gewisse Weise verbunden. Die Familie Koch hatte sein Leben bestimmt, obwohl sie ihn nie aufgenommen hatte. Sie hatte ihn für ihre Zwecke ausgenützt, und als sie ihn nicht mehr brauchen konnte, verstoßen. Das eine war ihr bereits passiert, auf das andere konnte sie sich schon langsam vorbereiten.
Am Tag nach dem Sprung traf sie ihn vergnügt und aufgeräumt wie schon lange nicht mehr. Kein Hauch einer Erinnerung an den Vortag trübte seine Laune.
»Küß die Hand, gnä’ Frau«, sagte er zu der hübschen Unbekannten, deren Besuch offenbar ihm galt. Als er sich über ihre Hand beugte, sah sie, daß er blaue Flecken am Nacken hatte und sein linkes Ohr angerissen war.
Als sie die Stationsschwester zur Rede stellte, erzählte ihr diese vom gestrigen Vorfall. Für Simone war klar: Selbstmordversuch.
Sie machte mit ihm einen langen Spaziergang in der Hoffnung, daß er ihr dabei mehr über den Vorfall erzählen würde.
Konrad genoß den Spaziergang wie ein Kind. Er watete im tiefen Laub, setzte sich auf jede Bank am Wegrand und schaute fasziniert einer Gruppe Forstarbeitern zu, die mit einer großen Kettensäge eine gefällte Buche zerteilten.
Fragen über den Sprung von der dritten Plattform überging er mit verständnislosem Lächeln.
Es dämmerte bereits, als sie am Grand Hotel des Alpes vorbeikamen. Konrad ging schnurstracks zum Eingang, nickte den Türstehern zu wie alten Bekannten und führte die überraschte Simone direkt in die Bar.
»Small world«, sagte er zur Barfrau, die ihnen die Mäntel abnahm. Sie nannte ihn Koni und brachte ihm »einen Negroni wie immer«.
Simone bestellte ein Glas Champagner und wußte nun endgültig, daß dieser Mann nicht in ein Pflegeheim gehörte.
»Gloria von Thurn und Taxis hat dem Fürsten zum Sechzigsten einen Geburtstagskuchen mit sechzig Penissen aus Marzipan machen lassen. Er war nämlich schwul. Aber das war nur Eingeweihten bekannt. Wußtest du das?«
»Nein, das wußte ich nicht«, kicherte Simone Koch und freute sich, daß er sie duzte.
Als der Pianist zu spielen begann, bestellten sie noch eine Runde. Plötzlich stand Konrad auf und ging zu zwei alten Damen in großgeblümten Kostümen, die an einem kleinen Tischchen nahe beim Piano saßen. Er wechselte ein paar Worte mit ihnen, und als er zurückkam, hatte er feuchte Augen.
»Sind Sie traurig, Herr Lang?« fragte Simone.
»Nein,
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