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Small World (German Edition)

Small World (German Edition)

Titel: Small World (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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bringen.
    Als sie ihn später verließ, hatte er Tränen in den Augen.
    Die Stationsärztin sagte am nächsten Tag zu ihr, es sei besser, wenn sie ihn nicht mehr mit nach Hause nehmen würde. Es verwirre ihn. Es falle ihm dann jedesmal so schwer, sich hier wieder zurechtzufinden. Er müsse langsam merken, daß er hier zu Hause sei.
    So wurde die geschlossene Abteilung des Alters- und Pflegeheims »Sonnengarten« Konrad Langs neues Zuhause.
    Frau Spörri, eine adrette kleine Frau mit blauen Haaren, früher Produktionsdirectrice in einer Kleiderfabrik, trug immer ein Jackett-Kleid, ein kleines Hütchen und weiße Handschuhe. Immer hatte sie ihre Handtasche dabei und manchmal – man wußte nicht, nach welchen Kriterien – einen Schirm. Sie saß im Sofa oder auf einem Stuhl in aufrechter Haltung, ihre Handtasche auf den Knien, und wartete mit verträumtem, geduldigem Lächeln darauf, daß man sie abholte.
    Herr Stohler, ein großer, gebeugter Mann in einer weiten Hausjacke, früher Auslandskorrespondent einer großen Zeitung, pflegte reglos am Tisch zu sitzen, unvermittelt aufzustehen, auf einen anderen Bewohner zuzugehen und in einem Kauderwelsch aus Englisch, Italienisch, Spanisch, Französisch und Kisuaheli auf ihn einzureden.
    Frau Ketterer, eine schwere, grobschlächtige, frühere Haushaltslehrerin saß breitbeinig auf ihrem Platz und wartete auf eine Gelegenheit, Frau Spörri zuzurufen: »Haben Sie gesehen, wie die wieder blöd gegafft hat?« Oder: »Sehen Sie die? Im Nachthemd im Restaurant!«
    Frau Schwab, Hausfrau und Mutter, Großmutter und Urgroßmutter mit schütterem Haar und spitzem Kinn, die schon lange auf ihr Gebiß verzichtete, trug immer einen hellblauen, rosaroten, gelben oder lindgrünen gesteppten Schlafrock, je nachdem, welcher nicht in der Wäsche war. Sie plapperte unentwegt mit hoher Kinderstimme in Babysprache auf eine nackte Puppe ein.
    Herr Kern, ein ehemaliger Zugführer, dem man nicht ansah, warum man ihn hierher gebracht hatte, sorgte für Ruhe und Ordnung im Gemeinschaftsraum. »Haltet doch eure blöden Mäuler«, herrschte er in regelmäßigen Abständen Frau Schwab und ihre Puppe an. »Red doch Deutsch!« befahl er Herrn Stohler, wenn der wieder mal einen Redeschwall auf jemanden herunterprasseln ließ.
    Herr Aeppli, gewesener Archivar der Stadtverwaltung, immer in einem abenteuerlichen Aufzug aus Kleidungsstücken anderer Heimbewohner, ging von Zimmer zu Zimmer und machte Bestandsaufnahmen und Schrankkontrollen.
    Herr Huber, einst Griechisch- und Lateinlehrer am städtischen Gymnasium, lag mit offenem Mund in seinem Rollstuhl und starrte an die Decke.
    Herrn Klein, früherer Kunstsammler und Architekt vieler trostloser Vorortssiedlungen, plagte neben seiner Demenz das Parkinsonsyndrom mit heftigem Zittern, was ihn völlig auf fremde Hilfe angewiesen machte.
    Insgesamt bewohnten vierunddreißig Frauen und Männer in verschiedenen, fortgeschrittenen Stadien der Demenz den sechsten Stock des »Sonnengartens«. Sie saßen allein oder in Gesellschaft ihrer ratlosen Angehörigen oder gingen ruhelos die Gänge auf und ab und grüßten sich jedesmal wie Fremde, wenn sich ihre Wege kreuzten.
    Medizinisch und therapeutisch betreut wurden sie von Fachleuten aus der Schweiz. Gepflegt, gewaschen, gefüttert und gekleidet von Schwestern und Pflegern aus Osteuropa, dem Balkan und Asien.
    Konrad Lang schien nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß er sich in einem Heim befand. Er hielt höfliche Distanz zu den Mitbewohnern und dem Pflegepersonal und nahm seine Mahlzeiten an einem separaten Tischchen ein, eine der alten Zeitschriften neben sich, die wohlmeinende Besucher im Gemeinschaftsraum zurückgelassen hatten. Er benahm sich wie ein besserer Herr in einer etwas heruntergekommenen Pension. Rosemarie hoffte, er fühle sich auch so.
    Die einzige Kritik, die sie manchmal von ihm zu hören bekam, war: »Hier stinkt’s.«
    Damit hatte er alles andere als unrecht.
    Der eiserne Staketenzaun zum unteren Nachbargrundstück wurde durch einen zeitgemäßen Sicherheitszaun ersetzt. Und wo sie schon dabei waren, ließ Urs Koch die ganze Grundstücksgrenze sanieren. Die elektronischen Überwachungsanlagen wurden vervollständigt und auf den neuesten technischen Stand gebracht, die Verträge mit dem Sicherheitsdienst um ein paar zusätzliche Dienstleistungen erweitert.
    Das und die Gewißheit, daß sich Konrad Lang in der geschlossenen Abteilung im sechsten Stock eines Heimes befand, aus dem man normalerweise nicht

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