Small World (German Edition)
mehr lebend herauskam, hätte Elvira Senn eigentlich genügen müssen, um sich vor weiteren Heimsuchungen aus der Vergangenheit sicher zu fühlen. Aber sie ertappte sich immer wieder dabei, daß sie an Konrad dachte. Dr. Stäublis Worte, daß Menschen mit Altersdemenz manchmal tief in ihrem Altgedächtnis versänken und plötzlich in greifbare Nähe zu ihren frühen Kindheitserinnerungen gerieten, gingen ihr nicht aus dem Sinn.
Sie sagte sich zwar, daß niemand auf das Geschwätz eines geistig Verwirrten achten würde, aber eine echte Beruhigung war ihr das nicht. Es machte sie nervös, daß Konrad ausgerechnet jetzt, wo er außer Kontrolle zu geraten schien, ihrem Einfluß entzogen war. Sie war eine Frau, die es gewohnt war, nichts dem Zufall zu überlassen.
Darum lud sie die stumm an ihrer Ehe mit Urs leidende Simone ins »Stöckli« zum Tee und brachte das Gespräch auf den alten Mann, was sich als nicht sehr schwierig herausstellte.
»Was wohl Koni macht«, sagte sie gedankenverloren.
Simone war überrascht. »Konrad Lang?«
»Ja. Wie er so dahockte wie ein Erdmännchen. Er konnte einem direkt leid tun.«
»Mir tat er sehr leid.«
»Eine schreckliche Krankheit.«
Simone schwieg.
»Dabei hat alles so gut für ihn ausgesehen: eine Frau mit Geld, die Aussicht, für den Rest seines Lebens das zu tun, was er am liebsten tut: rein gar nichts. Und jetzt im Heim.«
»Er ist im Heim?«
»Irgendwo hört die Liebe auf. Die Frau ist noch jung.«
»Das finde ich sehr egoistisch.«
»Es ist nicht jedermanns Sache, einen dementen Mann zu pflegen.«
»Aber ihn ins Heim abzuschieben ist schäbig.«
»Vielleicht geht es ihm dort gut. Unter seinesgleichen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Elvira seufzte. »Ich eigentlich auch nicht.« Sie schenkte Tee nach. »Vielleicht könntest du ihn einmal besuchen gehen.«
»Ich?«
»Sehen, wie es ihm geht. Ob er alles hat, was er braucht. Ob man etwas für ihn tun kann. Es würde mich beruhigen.«
Simone zögerte. »Ich gehe nicht gern in Krankenhäuser.«
»Es ist kein Krankenhaus. Es ist ein Altersheim. Das ist nicht schlimm.«
»Warum gehst du nicht?«
»Das ist unmöglich.«
»Oder wenigstens zusammen?«
»Vielleicht hast du recht. Vergessen wir die Sache. Vergessen wir Konrad.«
Simones erster Eindruck war der durchdringende Geruch im Lift, der überhandnahm, als sich die Tür zum sechsten Stock öffnete.
Als sie aus dem Lift trat, wurde es still im Aufenthaltsraum. Jede Bewegung erstarrte, bis auf Herrn Kleins Zittern.
Sie schaute sich um und entdeckte an einem Tischchen am Fenster Konrad Lang, der vor sich hin stierte. Sie ging zu seinem Tisch.
»Guten Tag, Herr Lang.«
Konrad Lang blickte erstaunt auf. Dann erhob er sich, streckte Simone die Hand entgegen und sagte: »Kennen wir uns nicht aus Biarritz?«
Simone lachte. »Natürlich, Biarritz.«
Als sie sich zu ihm setzte, besann sich der Aufenthaltsraum wieder auf sein Plappern, Stammeln, Kichern und Keifen.
Was Simone von Konrad Lang zu berichten hatte, beruhigte Elvira nicht.
»Den muß man da rausholen, und zwar rasch«, sagte sie, als sie aufgeregt von ihrem Besuch im »Sonnengarten« zurückkam. »Sonst wird er tatsächlich noch krank.«
Auf sie habe er nicht wie ein Alzheimerpatient gewirkt. Er habe sie sofort erkannt, obwohl sie sich erst zweimal getroffen hätten, und sofort auf seinen Witz mit Biarritz angespielt und ihr ausführlich von Biarritz nach dem Krieg erzählt, als ob es erst gestern gewesen wäre.
Er sei dort umgeben von völlig dementen Alten, mit denen er kein vernünftiges Wort reden könne. Und das Beste sei: An keinen einzigen Besuch dieser Rosemarie Haug könne er sich erinnern.
»Der Mann ist vielleicht manchmal etwas durcheinander, aber wer ist das nicht? Wenn der dorthin gehört, dann gibt es noch ein paar Dutzend andere, allein in meinem Bekanntenkreis. Der muß da raus, sonst geht er drauf.«
Elvira hatte sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr so enthusiastisch gesehen. Simone war wild entschlossen, Konrad aus dem Heim herauszuholen.
»Der Ärmste«, war Elviras Kommentar, »konntest du mit einem Arzt reden?«
»Ich habe es versucht. Aber mir gibt man keine Auskunft, weil ich keine Angehörige bin.«
»Vielleicht solltest du mit dieser Haug Kontakt aufnehmen.«
»Das habe ich vor. Aber ich weiß nicht, ob ich mich beherrschen kann.«
»Du kannst mit meiner vollen Unterstützung rechnen«, versprach Elvira.
Als Simone das »Stöckli« verließ, dachte sie,
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