Small World (German Edition)
der unteren Grenze lagen. Schwester Ranjah hatte ihm mit ihren Honigmandeln wohl das Leben gerettet. Als er Glukose in das Latexverbindungsstück von Konrads Infusionsbesteck spritzte, fand er dort Einstiche. Er selbst hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden keine Medikamente zugespritzt.
»Als Herr Lang letzte Nacht die Infusion herausriß, habe ich das ganze Besteck ausgewechselt.«
Dr. Kundert suchte nach einer Erklärung. Ein Patient mit normalen Zuckerwerten bekommt nicht aus heiterem Himmel einen hypoglykämischen Schock. »Und Ihnen ist den ganzen Abend nichts Besonderes an ihm aufgefallen?«
»Nur daß er sehr müde war. Sogar, als Frau Senn kam, schlief er weiter.«
»Frau Senn war da?« fragte Simone.
»Ja. Sie war über eine Stunde bei ihm.«
»Ist Ihnen da etwas Besonderes aufgefallen?«
»Ich war nicht im Zimmer.«
»Und am Monitor?«
»Auch nicht. Es war ja jemand bei ihm.«
Kundert und Simone waren schon auf der Treppe.
Thomas war zerzaust und aufgedunsen, als er um zwei Uhr nachts ins Gästehaus kam. Simone hatte ihn aus dem Bett geholt.
»Wenn es nicht um Leben und Tod geht, wirst du mich kennenlernen«, hatte er gedroht, als sie darauf bestand, daß er seine Brille mitnehmen und auf der Stelle kommen solle.
»Genau darum geht es«, antwortete sie. »Um Leben und Tod.«
Auch Urs rief sie an. Er sei noch nicht zurückgekommen, versicherte ihr eine verschlafene Candelaria.
Sie führte Thomas ins Stationszimmer und stellte ihm Dr. Kundert und Schwester Ranjah vor, die er unwirsch begrüßte. Einen Stuhl lehnte er ab. Er habe nicht vor, lange zu bleiben. Kundert ließ das Überwachungsband von der Stelle an laufen, wo die Schwester mit dem Blumenstrauß hereinkam und dann Elvira mit Konrad allein ließ.
»Sie hat Koni besucht?« wunderte sich Thomas. »Wann war das?«
Simone schaute auf die Uhr. »Vor sieben Stunden.«
Das Bild blieb immer gleich. Konrad Lang lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Elvira Senn saß neben ihm.
Dr. Kundert spulte das Band vor bis zu einer Stelle, wo Elvira kurz aus dem Sessel hoch- und zurückschnellte. Er stoppte das Band, spulte es zurück und ließ es in normaler Geschwindigkeit laufen.
Jetzt sah man, wie Elvira vorsichtig aufstand, sich über Konrad beugte und wieder setzte. Noch zweimal wiederholte sich diese Szene.
Als Elvira im Schnellgang zum vierten Mal hochfederte, blieb sie stehen und zappelte ums Bett herum. Kundert spielte den Vorgang in normaler Geschwindigkeit.
Elvira stand auf. Sie beugte sich über Konrad. Sie richtete sich auf. Sie öffnete ihre Handtasche. Sie nahm ein helles Tuch heraus. Sie legte es auf den Nachttisch. Sie schlug es auseinander. Sie nahm etwas in die rechte Hand. Sie ging damit zum Infusionsschlauch. Sie hielt ihn mit der linken Hand. Was sie dann tat, wurde durch ihre rechte Schulter verborgen.
Sie ging wieder zurück zum Nachttisch. Sie legte den Gegenstand auf das helle Tuch. Sie nahm einen zweiten Gegenstand. Sie ging zurück zum Infusionsschlauch. Sie hielt den Gegenstand gegen das Licht. Einen Moment zeichnete er sich deutlich gegen die Bettdecke ab. Es war eine Spritze.
Was sie dann tat, wurde wieder durch ihre Schulter verdeckt.
Erst beim dritten Mal war es genau zu sehen: eine Spritze! Und: Sie stieß die Nadel in die Latexverbindung des Infusionsschlauchs.
Elvira packte das Tuch wieder in ihre Tasche und verließ den Raum, ohne sich ein einziges Mal nach Konrad umzusehen.
»Was war das?« fragte Thomas Koch verdattert.
»Ein Mordversuch. Insulin. Herr Lang sollte durch einen hypoglykämischen Schock umgebracht werden. Nicht nachweisbar. Nur dank Schwester Ranjah hat er überlebt.«
Thomas Koch setzte sich. Lange Zeit schien er wie benommen. Dann sah er Simone an. »Warum hat sie das getan?«
»Frag sie selbst.«
»Vielleicht ist sie verrückt geworden.«
»Hoffentlich kann sie das beweisen«, sagte Dr. Kundert.
Am nächsten Morgen fühlte sich Elvira Senn ausgezeichnet. Sie hatte herrlich geschlafen, erwachte in der frühen Morgendämmerung mit einem Gefühl großer Erleichterung, stand sofort auf und ließ ein Bad ein.
Als sie eine dreiviertel Stunde später ihr Frühstückszimmer betrat, merkte sie, daß etwas schiefgegangen sein mußte. Thomas lag angezogen auf dem kleinen Sofa und schlief mit offenem Mund. Sie rüttelte ihn wach. Er setzte sich auf und versuchte sich zurechtzufinden.
»Was machst du hier?«
Thomas überlegte. »Ich habe auf dich
Weitere Kostenlose Bücher