SMS für dich
Minuten mal keinen Gedanken an Ben und seinen Tod verliert,
packt sie sogleich wieder das schlechte Gewissen.
Als sie am Wochenende mit ihrer Oma Lisbeth durch den Lüneburger Kurpark spaziert war, hatte sie sich kurzerhand verabschiedet,
weil sie unbedingt nach Hause rennen musste, um sich Fotos anzugucken. Aus Sorge, Bens Gesicht zu vergessen, wollte sie sich
die vermeintlich verschwundenen |13| Erinnerungen umgehend zurückholen. Als sie mit Seitenstechen endlich zu Hause ankam, riss sie sämtliche Alben aus dem Regal,
schlug sie hektisch auf und legte die schönsten Bilder nebeneinander auf den Fußboden.
Ob sie an ihrem Schreibtisch im Büro ein Foto von Ben aufstellen sollte? Eines, auf dem er sein gewitztes Lächeln zeigt, das
seinen Charme wenigstens ein bisschen festhält? Wie wohl ihre Kollegen reagieren würden? Heute wird Clara sie das erste Mal
seit der Beerdigung wieder sehen.
Aber sie ist dieses eigenartige Gefühl leid, etwas Aussätziges zu sein. Sie will die anderen nicht unnötig in Verlegenheit
bringen.
Das Schlimmste sind gar nicht die unbeholfenen Äußerungen von Bekannten, die schlicht ihr Beileid aussprechen. Sondern all
die Worte, die nicht gesprochen werden, denkt Clara, sie sind es, die mich geradezu erniedrigen.
Die Nachbarin ihrer Mutter etwa war einfach aufgesprungen und wortlos aus der Küche verschwunden, als Clara einmal unangekündigt
zu Hause auftauchte.
In der Agentur wissen jedoch alle Bescheid, dass heute ihr erster Arbeitstag ist. Hoffentlich geht alles gut, betet Clara
und stößt die gläserne Tür des Bürogebäudes im Lüneburger Industrieviertel auf. Sie ist extra früh unterwegs, damit sie sich
vielleicht erst mal wieder an ihr Büro gewöhnen kann, bevor der Berufsalltag wieder über sie hereinbricht.
Als sie aus dem Fahrstuhl tritt, ist sie überaus nervös, zumal der Flur bedrohlich ruhig wirkt. Sogar Viola vom Empfang ist
noch nicht da.
Clara wundert sich, dass auch ihre eigene Bürotür geschlossen ist. Ob ihr Gehirn bereits so verkümmert ist, dass sie den Sonntag
für Montag hält?
|14| Aber das protzige Spider-Cabrio von Niklas stand direkt vor der Eingangstür. Zumindest ihr Chef müsste also schon hier sein.
Da auch seine Tür nicht offen steht, entscheidet sich Clara, ihn lieber erst später zu begrüßen.
«Überraschung!» Als Clara die Klinke ihrer Bürotür runterdrückt, dröhnt es in vielen verschiedenen Tonlagen aus ihrem Büro.
Im Halbkreis steht die versammelte Mannschaft um ihren Schreibtisch herum und schaut sie erwartungsvoll an. Über ihrem Mac
hängt ein Banner mit der Aufschrift «Herzlich willkommen!». Und auf dem Schreibtisch steht eine große Glasvase mit einem bunten
Frühlingsstrauß darin.
Noch ehe Clara etwas sagen kann, ergreift Niklas das Wort.
«Wie ich sehe, ist uns diese Überraschung am frühen Morgen gelungen. Hallo Clara!» Er räuspert sich und sieht verlegen in
die Runde. «Tja, ähm, wir freuen uns einfach, dass du wieder da bist. Und da ich dich jetzt schon lange genug kenne, um zu
wissen, dass du nicht gern im Mittelpunkt stehst, höre ich auch schon auf, hier große Reden zu schwingen. Ich wollte ja auch
nur sagen: Wir alle hier heißen dich herzlich willkommen! So, und nun geht’s wieder an die Arbeit, Leute.»
Die Gruppe applaudiert verhalten und löst sich schnell auf. Nur Antje geht auf Clara zu und schließt sie zur Begrüßung kurz
in die Arme. Clara ist sehr gerührt. Sie muss ihre Tränen unterdrücken.
«Danke», haucht sie leise.
Daraufhin schaut Antje sie mit großen Augen an und entgegnet schnell: «Hey, wofür denn?»
|15| Clara zuckt mit den Schultern und lächelt. Es ist das erste Lächeln seit Wochen.
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Sven
Wäre ich doch bloß im Bett geblieben! Sven bereut das frühe Aufstehen, als ihm in der überfüllten S-Bahn Richtung Landungsbrücken die Knoblauchfahne seines Gegenübers ins Gesicht schlägt und den Genuss seines Kaffees mit Mandelaroma
und Milchschaum verdirbt. Mehr noch als über den Gestank, den der dicke Mann beim lautstarken Reden mit einem Kollegen in
die ohnehin schlechte Luft rauslässt, ärgert er sich über sich selbst, weil er es seit mindestens zehn Wochen nicht geschafft
hat, sein Rennrad zu reparieren. Eigentlich gibt es dafür keine Entschuldigung, allenfalls ein paar dürftige Erklärungen.
Zu viel Alkohol und unschöne Frauengeschichten, zu wenig bereichernder Input, der wiederum den inneren Antrieb nur
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