SMS für dich
anfühlt. Wenn Hilke ihn gleich
freudig begrüßt und nach seinem Wochenende fragt, wird er sich irgendetwas ausdenken müssen, um davon abzulenken, dass er
mal wieder nichts von dem geschafft hat, was er sich eigentlich vorgenommen hatte. Weder hat er sich um die kaputte Gangschaltung
gekümmert, noch ist er joggen gegangen oder mit seinem Kumpel Bernd auf ein Bier in der Kneipe gewesen. Auch bei seinem Vater
hat er sich nicht gemeldet. Er weiß einfach nicht, worüber er mit ihm reden soll.
Als Sven aus der Bahn steigt und in Richtung Verlagshaus geht, atmet er mehrmals tief ein und aus, so, als könne er die von
den anderen Pendlern ausgedünstete Luft wieder aus seinem Körper heraushauchen. Irgendwas muss sich ändern, denkt Sven, ich
will mich endlich wieder lebendig fühlen. Aber er hat absolut keine Idee, wie er das anstellen soll.
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|19| Clara
Erst als sie abends im Bett liegt und über den ersten Arbeitstag nachdenkt, wird Clara allmählich klar, dass Niklas am Morgen
das einzig Richtige getan hat. Durch die herzliche Begrüßung hat er ihr den Einstieg viel leichter gemacht, als sie tagelang
vorher befürchtet hatte. Die Vorstellung, jeder wäre einzeln mit gesenktem Blick bei ihr im Büro vorbeigekommen, war furchtbar
gewesen.
Plötzlich muss Clara schmunzeln. Wie oft hat sie ihren Chef schon behutsam darauf aufmerksam gemacht, dass er nun einmal kein
kreativer Kopf sei, sondern seine Stärke allein im Kundenfang läge? Doch heute hatte er wirklich mal eine gute Idee.
Clara fühlt sich angenehm geschafft von all den vertrauten und doch neuen Eindrücken dieses Tages, und seit langem freut sie
sich mal wieder aufs Einschlafen. Sie verspürt jedoch das Bedürfnis, unbedingt noch mit jemandem zu sprechen. Für einen Anruf
bei ihrer Oma ist es schon zu spät. Und wenn sie jetzt Katja anriefe, würden sie wie meistens so richtig ins Plaudern geraten.
Früher hatte sie Ben alles erzählt. Wie gerne würde sie ihm auch jetzt von ihrem Tag berichten. Heute hatte sich gezeigt,
dass sie in der Agentur wirklich gebraucht wurde. Morgen früh würde sie schon wieder an einer Vorbesprechung für einen wichtigen
Pitch teilnehmen. Und das fühlte sich gut an, es fühlte sich ein wenig wie Normalität an.
Ohne weitere Grübeleien greift Clara plötzlich zu ihrem Handy, richtet sich auf und tippt mit zitternden Fingern und einigem
Herzklopfen eine SMS an Ben.
|20| Mein Liebling! Wo bist du nur, wie geht’s dir bloß? Du fehlst mir in jeder Sekunde, aber ich hab heut das erste Mal wieder
gelacht. In ewiger Liebe, dein Lilime
Clara nimmt einen großen Schluck ihres allabendlichen Früchtetees, nickt zufrieden und drückt auf Senden.
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Sven
Was für eine Ohrfeige!
Noch immer sitzt Sven wie versteinert vor seinem ausgedruckten Artikel über die aktuelle Studie des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung, den sein Chefredakteur ihm ohne ein Wort, aber mit hochgezogenen Augenbrauen auf den Schreibtisch gepfeffert
hat.
Er ist es gewohnt, dass seine Texte ohne große Änderungen durchgehen. Denn da er sich meist an die Absprachen aus der Redaktionssitzung
hält, werden auch die inhaltlichen Gewichtungen meist abgenickt, ohne dass er sich ein zweites oder drittes Mal ans Redigieren
machen muss. Diesen Text allerdings würde er offensichtlich noch einmal ganz von vorn beginnen müssen, und das, obwohl längst
Redaktionsschluss ist.
«Ein durchaus interessanter Dreh. Fokus aber verfehlt! gez. bre» hatte Walter Breiding ans Ende geschrieben, nicht ohne alle
sechs Manuskriptseiten von jeweils oben nach unten diagonal durchzustreichen.
Das war Sven noch nie passiert! Nicht einmal während seines Volontariats bei der Hannoverschen Allgemeinen. |21| Und auch nicht beim News-of-the-World-Magazin in London. Aber noch bevor er sich bei Hilke lautstark über Breiding beschweren
kann, wird ihm klar, dass er diesmal wirklich Mist geschrieben hat.
In dem Text steckt genauso wenig Herzblut wie in der Liste, die er gestern Abend zu Hause bei einer Flasche Barolo begonnen
hatte. Hilke hatte ihm geraten, seine konkreten Lebensziele für die nächsten Jahre aufzuschreiben. Sie schwört auf die Methode.
Aber Sven war nicht wirklich weit gekommen und hatte sich wieder seinem Artikel gewidmet.
Und nun musste er zugeben, aufgrund mangelnder Recherche den Fokus seines Artikels schlicht zugunsten seiner eigenen Argumente
verdreht zur haben.
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