SMS für dich
alles andere als peinlich. Wo immer er auftauchte,
stand er gleich im Mittelpunkt. Clara hatte sich an seiner Seite zwar manchmal etwas geschämt, ihn aber meist bewundernd angesehen.
Umgekehrt war Ben einfach unschlagbar darin, Clara das wohlige Gefühl zu vermitteln, sie sei die wundervollste Frau der Welt.
Auch wenn er es mit seinen Komplimenten gerne übertrieb. Wenn sie sich wieder mal über ihre zu kleinen Brüste oder ihr langweiliges,
dunkelblondes Haar beschwerte, hatte er ihr immer glaubhaft versichern können, dass sie die Einzige war, um die sich alles
drehte.
Wie aber hat er sie dann jemals verlassen können? Wenn er sie doch angeblich wirklich so geliebt hat? Oder hat er sie gar
nicht verlassen, sondern das unerbittliche Schicksal war schuld an allem?
Clara spürt die Verzweiflung in sich hochsteigen. Schnell verspricht sie Katja, es sich noch mit einer Tasse Früchtetee gemütlich
zu machen, und legt auf.
Was ist eigentlich erschütternder? Die Tatsache, dass ein junges Leben in einer glücklichen Beziehung durch einen tragischen
Unfall für alle Ewigkeit ausgelöscht wird? |28| Oder das Gefühl, den eigenen Partner, mit dem man über drei Jahre lang seinen Alltag geteilt hat, in Wahrheit kaum gekannt
zu haben? Wie lange musste sich Ben schon gequält haben?
Clara ermahnt sich, diese stechenden Fragen, die immer wieder unvermittelt auftauchen, beiseitezuschieben. Es ist an der Zeit,
dass sie sich nun mehr und mehr ihrem neuen Leben stellt. Unter keinen Umständen will sie Katja oder ihrer Familie länger
zur Last fallen. Und vor allem will sie Lisbeth und Willy nicht länger zusätzlichen Kummer bescheren.
Es ist ohnehin schlimm genug, dass es ihrem Opa mit jedem Jahr schlechter geht, denkt Clara und fährt sich mit den Händen
durchs Gesicht. Und ihre Oma? Seit Willys Schlaganfall hat auch sie so viel an Vitalität und Lebensfreude einbüßen müssen.
Meist tut ihr Großvater nicht viel anderes, als in seinem Sessel zu sitzen und sich hinter seinen Büchern über Astronomie
oder Geschichte zu verstecken, obwohl seine Augen schnell müde werden.
Clara muss plötzlich schlucken, als sie an das gestrige Treffen mit ihren Großeltern denkt. Gemeinsam saßen sie an dem Esstisch,
der ebenso wie Lisbeth und Willy weit über 70 Jahre hinter sich hat.
Ihre Oma ist eine so zierliche Frau, dachte Clara, als sie sich über den frisch gebackenen Kuchen hermachte. Dennoch ist sie
robust und stark und hat sich immer ein warmes Strahlen bewahrt.
Clara steht ihr sehr nahe, auch wenn sie weder äußere Merkmale noch auffällige Charaktereigenschaften von Lisbeth geerbt hat.
Eher kommt sie nach ihrem Großvater, der ebenso wie ihr Vater diese intensiv grün leuchtenden |29| Augen hat. Ohnehin liegen Clara die Menschen der väterlichen Seite ihrer Familie eigentlich viel mehr am Herzen. Ob es daran
liegt, dass sie ihren Vater so früh verloren hat?
Sie war gerade mal elf, als er an Darmkrebs erkrankte und bald darauf gestorben ist. Damals war alles sehr schnell gegangen,
und manchmal schämt sich Clara dafür, dass sie sich nur noch vage an seine Stimme, sein Gesicht oder seinen Geruch erinnern
kann.
Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist seitdem gespannt. Es fällt Clara so viel leichter, mit Lisbeth über all das zu reden, was
sie bewegt.
«So, mein Kind. Dann hau mal ordentlich einen Schlag rein», ordnete ihre Oma an und griff zu der Kristallschale mit der Sahne.
«Aber dein Kuchen schmeckt auch so schon sehr lecker!», entgegnete Clara, wohl wissend, dass jeder Widerspruch schlicht ignoriert
wird.
Noch während sie den Kuchen aß und sich das übliche Geplauder über Nachbarn und den Streit um die Einführung von Altpapiertonnen
durch einen Privatbetrieb anhörte, flüchtete Willy sich wieder ins Wohnzimmer.
«Wie läuft es denn mit ihm zurzeit?», fragte Clara und nahm sich noch ein Stück Kuchen.
«Nun ja, er schlägt sich so durch. Seine regelmäßigen Radtouren fehlen ihm schon sehr.» Für gewöhnlich geht Lisbeth lächelnd
über das Thema hinweg, doch an diesem Sonntag senkte sich ihr Blick. «Ich fürchte, allmählich mag er nicht mehr.»
«Wieso?» Claras Herz schlug plötzlich spürbar schnell. «Was ist denn passiert?»
|30| «Es ist gar nichts passiert. Aber er redet in letzter Zeit so wenig. Und sein Schlaf ist seit längerem wieder sehr unruhig.»
«Wie, unruhig? Hatte er vielleicht einen neuen Anfall?»
«Nein, das hätten wir sicher
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