Snobs: Roman (German Edition)
daran tat sich vor ihr ein so schwindelerregender Abgrund auf, dass sie sich damit erst auseinandersetzen wollte, wenn es gar nicht mehr anders ging. Seit feststand, dass sie Charles endlich sehen durfte, hatte ihr Geheimnis für sie im Grunde etwas Unwirkliches angenommen.
Sie blieb vor der Galerie gegenüber dem Poule Au Pot stehen und sah sich im Fenster flüchtig einige Skizzen an. Da fuhr eine blitzende Limousine vor; der Chauffeur war einer arabisch aussehenden Frau beim Aussteigen behilflich, die dann die Galerie betrat. Als Edith dieses in Zobel gehüllte Wesen mit der dicken Rougeschicht und den Diamantarmbändern betrachtete, musste sie plötzlich an ihre Schwiegermutter denken. Ein solches Auftreten wäre ganz und gar nicht Lady Uckfields Stil. Sie wäre im Taxi gekommen, in vernünftiger Garderobe und mit erstklassigem Perlenschmuck, hätte so wenig Aufhebens gemacht wie möglich und sich darauf verlassen, dass der Geschäftsführer sie wiedererkannte. Und wären die beiden Damen zusammengetroffen, dann hätte die Levantinerin in Lady Uckfields Gegenwart eine gewisse Nervosität empfunden, während Lady Uckfield ihr mit höflicher Nonchalance begegnet wäre.
Der Auftritt in der kleinen Bibliothek in Broughton hatte Lady Uckfield in den Augen ihrer Schwiegertochter keineswegs herabgesetzt, sondern ihr paradoxerweise einen widerwilligen Respekt vor den Prinzipien der Marchioness eingeflößt. Edith hatte Personen, die vor ihrer Schwiegermutter katzbuckelten, immer verachtet, doch in den letzten Tagen hatte sie ihre Gefühle einer Revision unterzogen. In der Anfangszeit ihrer Ehe hatte sie sich vielleicht mehr von jenen Dingen ersehnt, die für diese Araberin im Pelz bei ihrer täglichen Runde selbstverständlich waren: Luxus, Glanz, berühmte Gesichter. Das alles – oder jedenfalls eine englische Ausgabe davon – hatte die junge Edith Lavery fälschlicherweise mit der Welt einer »Lady Broughton« gleichgesetzt und war bestürzt, als sich ihr neues Leben als großteils so prosaisch erwies. Sie wusste genau, dass ihre Schwiegermutter der Meinung war, sie beziehe ihre Vorstellungen aus Romanen und Biografien des neunzehnten Jahrhunderts; gelegentlich hatte Edith sogar ihre eigene Mutter gegen den Vorwurf in Schutz genommen, sie hätte ihr diese bourgeoisen Flausen in den Kopf gesetzt. Doch nun erkannte Edith, dass der Vorwurf eine gewisse Berechtigung besaß. Die Realität des Lebens mit Charles war ihr so banal und eintönig erschienen im Vergleich zur rasanten Folge von Ereignissen, den glanzvollen Ballsälen, in denen sich die Mächtigen drängen, dieser berauschenden Lady-Palmerston-Karriere, auf die Edith sich eingestellt hatte.
Doch an jenem Tag bei der Modenschau, als die Menge vor Lady Uckfield und der königlichen Hoheit auseinander gewichen war wie das Rote Meer vor Moses, hatte Edith gesehen, was sie weggeworfen hatte: den Schlüssel zu allen verschlossenen Türen in England und im größten Teil der restlichen Welt – wenigstens in der Gesellschaft der Oberflächlichen. Ein mit Landbesitz verbundener Titel garantierte vielleicht keine Einladung nach Camp David, doch in Palm Beach hätte sie sogar im einundzwanzigsten Jahrhundert niemals einsam zu sein brauchen. Und Edith wusste inzwischen, dass die Oberflächlichen, die Snobs, deren Gesellschaftsleben darin besteht, zur Untermauerung der eigenen Position Menschen um sich zu sammeln,
zehnmal zahlreicher sind als der Rest. Diese Art von Macht zählt global gesehen vielleicht nicht viel, dennoch stellte sie etwas dar, und wofür hatte Edith sie eingetauscht? Das Leben in Broughton mochte langweilig sein, doch wie war das Leben in der Ebury Street? Was war ihr lieber, fehlendes Getöse oder fehlende Macht? Sie war aus schierer Langeweile in einem bockigen Trotzanfall aus der großen Welt davongelaufen und hatte sich über Nacht von einer hohen Trumpfkarte im Gesellschaftsspiel in eine peinliche Unperson verwandelt, mit der man ja nicht gesehen werden wollte.
Etwas wie ein Schauder überlief sie, und sie ging weiter. Dann dachte sie an die beiden Männer. Weil sie Charles wegen seines Titels und seines Vermögens geheiratet hatte, hatte sie immer angenommen, dass sie ihn ohne diese beiden Attribute nie angesehen hätte. In ihren zwei gemeinsamen Jahren hatte sie – so absurd es ihr jetzt vorkam – einen Groll gegen ihn entwickelt, weil er sie mit seinen weltlichen Besitztümern eingefangen hatte, ohne die Persönlichkeit zu besitzen, sie
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