Snobs: Roman (German Edition)
Zutreffendes«, räumte sie ein. »Und vielleicht aus diesem Grund oder einem ähnlichen, der sich hoffentlich in klangschönere Worte fassen lässt, habe ich aus meinen Chancen einen solchen Triumph gemacht, wo du erbärmlich gescheitert bist. Adieu, meine Liebe.«
22
Man mag sich fragen, warum die bei jedem Schachzug ausgetrickste Edith nicht die modernere Lösung ihres Dilemmas wählte, sich bei einem kurzen Aufenthalt in einer diskreten ländlichen Klinik aller Komplikationen entledigte und dann die von Lady Uckfield angesetzten drei oder sechs Monate abwartete, um allen die Stirn zu bieten. Vermutlich kannte sie die Gründe selbst kaum, doch sie entschied sich gegen diesen Weg. So weit ich weiß, war sie nicht sonderlich religiös und kannte nur ein Minimum an moralischen Skrupeln, aber vielleicht, weil sie die Chance zur Rettung eines Lebens gesehen hatte, das ganz und gar von ihr abhing, brachte sie es nicht über sich, es zu opfern. Meiner Meinung nach eine eher vom Instinkt als vom Gefühl diktierte Entscheidung – sonst könnte man jeder Tigerin im Dschungel Gefühle unterstellen. Vermutlich verstehen Frauen besser als die meisten Männer, warum etwas, was begrifflich kaum und juristisch noch gar nicht existiert, einen Menschen so in die Pflicht nehmen kann.
Hilfe kam zu guter Letzt aus einer höchst unwahrscheinlichen Ecke. Edith hatte mir gleich am nächsten Morgen von ihrem kurzen Aufenthalt in Broughton berichtet. Natürlich fürchtete ich die Bitte, dass ich nun eine aktivere Rolle übernehmen sollte, als sie mir zu meiner Überraschung erzählte, dass sie Charles’ nächsten Besuch in Feltham abwarten würde. »Er fährt ungefähr alle zwei Wochen hin. Da werde ich ihn mir schnappen.«
»Woher weißt du, wann das ist?«
»Caroline wird es mir sagen. Sie fährt mich hin.«
Diese Information erleichterte mich ebenso, wie sie mich erstaunte. Ich war erleichtert, weil ich entbehrlich wurde, und erstaunt, weil ich
nie gedacht hätte, dass Caroline ihrer Mutter in den Rücken fallen würde. Ihre Motive sind mir auch heute noch schleierhaft. Die Ehe der Chases war am Wackeln, und möglicherweise wollte Caroline nicht, dass die Scheidung des Erben die Frage ihrer eigenen befriedigenden Scheidungsregelung in den Hintergrund drängte. Vielleicht war es ein Akt der Rebellion gegen ihre Mutter, deren Werte Caroline immerzu abzulehnen glaubte – irrigerweise übrigens. Vielleicht gab es auch eine viel einfachere Erklärung: Caroline liebte ihren Bruder, und es war für sie eine Qual, ihn unglücklich zu sehen. Letzten Endes spielte wohl wie immer alles zusammen.
»Wann hast du mit ihr gesprochen?«
»Sie hat mich heute früh angerufen, nachdem sie von meinem Besuch in Broughton erfahren hatte. Vermutlich hat sie Mitleid mit mir.«
»Na, das ist ja eine echte Überraschung, aber ich freue mich für dich. Es ist wesentlich akzeptabler, dass Charles’ Schwester dir hilft, als dass ich mich einmische. Hältst du mich auf dem Laufenden?«
»Das werde ich tun«, versprach sie.
Trotz ihrer Erklärung war sich Edith über Carolines Beweggründe selbst nicht ganz im Klaren. Seit Ediths Aufnahme in die Familie waren sich die beiden Frauen nie wirklich nahe gekommen. Aber es gab auch keine Feindseligkeit zwischen ihnen. Obwohl Eric fast unablässig bissige Bemerkungen über Edith fallen ließ, hatten sie und ihre Schwägerin eine Art reservierter Vertrautheit entwickelt, für die der Begriff Freundschaft allerdings überstrapaziert wäre, und Caroline wäre nie im Zweifel gewesen, wem sie letztlich die Stange hielte. Die von Selbsterkenntnis völlig unbeleckte Caroline Chase konnte sich noch so modern geben, im Grunde war sie ganz die Mutter. Vielleicht verachtete sie die schmallippigen Countesses und Ministergattinnen, aus denen sich Lady Uckfields Klüngel zusammensetzte, doch letzten Endes hatte sie sich ihren eigenen Freundeskreis unter den aufmüpfigen, schockierend gekleideten Kindern eben jener Damen gesucht.
Welche Motive auch dahintersteckten, Caroline hielt Wort. Zwei Tage später klingelte in der Ebury Street das Telefon, und als Edith abhob, meldete sich Caroline. »Falls du Interesse hast: Charles ist jetzt in Feltham. Er ist gestern Abend hingefahren und bleibt bis morgen alleine dort.«
Edith warf einen Blick zu Simon hinüber, der in die Daily Mail vertieft war. Er hatte auch den Independent abonniert, las ihn aber nie. Sie bereitete sich auf eines jener leicht chinesisch anmutenden
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