Snobs: Roman (German Edition)
zu amüsieren. In Wahrheit war es aber doch sie gewesen, die ihm nachgejagt war. Dennoch hatte sie ihm, unredlich und im Selbstrechtfertigungszwang, den moralischen Status einer Köderfalle zugewiesen.
Als sie jetzt die Pimlico Road entlangschlenderte und in den Schaufenstern die Antiquitäten bewunderte, dachte sie an alles, was ihr im Green Park durch den Kopf gegangen war, und merkte, dass sich durch die Trennung tatsächlich etwas verändert hatte. Sie hatte neuerdings die Gewohnheit entwickelt, mit einer größeren Nachsicht an ihren Mann zu denken. War es wirklich so unangenehm, mit ihm zusammen zu sein? So viel weniger reizvoll als mit Simon? Schließlich finden viel schlimmere Männer als Charles eine Frau. Wäre ihr die Vorstellung, Charles zum Mann zu haben, in früheren Zeiten denn so entsetzlich vorgekommen? Wenn sie Mr. Charles Broughton als den Verehrer einer Schulfreundin kennen gelernt hätte, hätte sie dann kreischend in die Nacht hinausrennen und ihre arme Freundin mit sich zerren wollen? Natürlich nicht. Simon sah sicher sehr viel besser aus, kein Zweifel, doch mit den Monaten hatte sie sich an sein
Aussehen gewöhnt und das ständige Zwinkern, mit dem er jeden zwischenmenschlichen Kontakt begleitete, begann ihr auf die Nerven zu gehen. Immer dieses angedeutete Lächeln, der Blick unter schweren Lidern, mit denen er Kellnerinnen und Stewardessen und die Mädchen an der Kasse im Supermarkt bedachte, immer dieses Schütteln der goldenen Mähne, das alles begann sie zu langweilen.
Was ihr mehr zu schaffen machte als der Vergleich der äußeren Erscheinung (Charles war keine Schönheit, aber durchaus nicht unansehnlich), war das Thema Sex. Sie musste einräumen, dass Simon der weit bessere Liebhaber war, ein ausgezeichneter Liebhaber sogar, nicht nur im Vergleich mit dem armen Charles, und das ließ sich weniger leicht abtun. Sie genoss es, mit Simon ins Bett zu gehen. Sehr sogar. Der Gedanke, mit ihm zu schlafen, war immer noch erregend genug, dass es sie im Bauch zu kribbeln begann, dass sie nervös und unruhig wurde, dass sie die Beine übereinander schlug. Damit könnte der gute Charles nie konkurrieren, mit seinem unbeholfenen Gefummel, seinem Fünf-Minuten-Gerammel und seinem »Danke, Schatz«, das sie fast wahnsinnig machte.
Doch wie sich vielleicht voraussehen ließ, gestand sie sich zum ersten Mal ein, dass Sex mit Simon nach einem Jahr den Reiz der Neuheit verloren hatte. Sex mit ihm war immer noch toll, keine Frage, wenn auch weniger häufig als anfangs; doch Edith verschloss nicht länger die Augen davor, gegen welches Leben sie ihren goldenen Käfig eingetauscht hatte. Und wie viel Zeit verbringt man schließlich schon im Bett beim Sex? War das wirklich den ganzen Rest wert, den sie sich damit einhandelte? Entschädigte eine angenehme halbe Stunde zwei-, dreimal die Woche für diese endlosen, grässlichen Partys, diese schrecklichen Leute mit ihrer nuscheligen Aussprache, die rauchend in der Wohnung herumhockten, oder diese fürchterlichen Freunde aus der Schauspielschule, die sich über Frisurmoden, Gartentipps und Billigreisen ausließen? War Charles dagegen auf seine Art nicht richtig süß? War er nicht anständiger als Simon? War er nicht auch der aufrichtigere Mensch?
So ging Edith die Sloane Street entlang, warf sich ihre Scheinwerte
vor und spulte eine Litanei von Charles’ grundlegenden Qualitäten ab, um sich selbst zu überzeugen. Doch plötzlich war es, als bräche die Sonne durch die Wolken, und Edith erkannte in einer seltenen Anwandlung von Ehrlichkeit die Ironie ihres inneren Zwiegesprächs. Sie klammerte sich an die Argumente, als würden die Gegenargumente sie überwältigen, wenn sie ihnen Gehör schenkte. Dabei hätte jeder unvoreingenommene Beobachter sofort versichert, dass Charles selbstverständlich ein anständigerer Mensch war als Simon. Es sprang regelrecht ins Auge, dass Simon überhaupt keinen Anstand besaß. Im Gegensatz zu Charles kannte er kein Ehrgefühl, sondern nur Pragmatismus. Er konnte nicht aufrichtig sein, weil er von Aufrichtigkeit keine Ahnung hatte. Seine Moral bestand aus einem bunten Strauß gängiger Überzeugungen, die momentan angesagt waren und ihn seiner Meinung nach für Casting-Direktoren interessant machten. Und nun redete sie, Edith, sich mühsam ein, dass sie Charles bevorzugte, wo für jeden feststand, der beide Männer kannte, dass es da überhaupt nichts abzuwägen gab. Charles mochte langweilig sein, war aber Simon
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