So finster, so kalt
beizukommen. Gleichzeitig ist sie extrem gerecht und nachsichtig gewesen, gerade den Kleineren gegenüber. Ach, ich rede gerade Blödsinn. Verstehst du trotzdem, was ich meine?«
Merle lächelte. »Wir haben sie beide sehr gut gekannt.«
Selbst wenn er Blödsinn redete, lenkte es sie gut von dem ab, was vor ihr lag. Daher bedauerte sie, dass er unvermittelt aufsprang und sich zur Tür wandte. »Sarah hat bisher nicht angerufen. Ich möchte doch nachschauen, ob ich Ronja und die anderen beiden irgendwo finden kann.«
Merle erhob sich ebenfalls, schob die Unterlagen zusammen und steckte sie zurück in den Umschlag. »Ich komme mit. Das hier kann ich mir später noch ansehen.«
*
Sie waren kaum auf dem Marktplatz vor der kleinen Kirche angekommen, als ein etwa fünfjähriges Mädchen auf Björn zu- flitzte und in seine ausgestreckten Arme fiel. Er wirbelte das jauchzende Kind durch die Luft, bevor er es auf den Arm nahm. »Das ist Ronja, die jüngere meiner beiden Töchter. Schau, das ist Merle, Oma Magos Enkelin.«
»Tag!« Ronja streckte ihre Hand aus, die Merle lächelnd ergriff.
»Wo habt ihr euch denn herumgetrieben?« So ganz konnte Björn den erleichterten Vorwurf nicht aus seiner Stimme verbannen. Seine Tochter legte den Kopf in seine Halsbeuge und kicherte verlegen.
»Na komm, erzähl mal.«
Ronja zeigte auf Merle. »Wir waren am Knusperhäuschen.«
»Alle drei? Mit Luke und Amelie?«
»Ja, und Marie.«
»Schon wieder? Habt ihr etwas angestellt?«
Ronja zog ihre Haare vor das Gesicht und schüttelte dahinter den Kopf.
Björn brummte mit gespielter Entrüstung, hakte jedoch nicht weiter nach, sondern setzte die Kleine neben Merle ab. »Du entschuldigst mich? Ich will mal nachhören, ob die anderen Kinder alle da sind. Ronja, bleibst du bei Merle? Wollt ihr mal gucken, ob ihr Paul findet? Paul Kupferschmidt ist der Pfarrer«, fügte er zu Merle gewandt hinzu, hob grüßend die Hand und ging mit schnellen Schritten in Richtung Gemeindesaal.
Ronja griff nach Merles Hand und zog sie hinter sich her. »War Oma Mago deine richtige Oma?«
»Das war sie. Kennst du auch meinen Vater Theodor?«
»Klar. Er macht coole Sachen aus Holz. Letzten Winter haben wir Vogelhäuser gebaut.«
Ronja blieb abrupt stehen und blickte zu Merle auf. Mit kindlichem Ernst legte sie den Finger an die Lippen, als wollte sie ihr Gegenüber zu Stillschweigen verpflichten. »Kennst du das Knusperhäuschen?«
»Na klar. Ich habe sogar zwei Jahre lang dort gewohnt, als ich ungefähr so alt war wie du.«
Ronja überlegte angestrengt und setzte sich langsam wieder in Richtung Kirche in Bewegung. »Findest du es da gruselig?«
Merle dachte über die Frage des Mädchens nach. Sie wusste, dass ihre Freundinnen nicht immer mit der rustikalen Atmosphäre zurechtgekommen waren, oder schlicht den Komfort eines modernen Hauses vermisst hatten.
Aber gruselig?
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte sie. »Was meinst du denn? Hattet ihr Angst vor der Omi Mago?«
»Nein. Ach was.« Ronja wedelte Merles Worte mit einer entschiedenen Handbewegung fort. »Na ja, manche von uns fanden sie vielleicht ein bisschen gruselig. Also Luke, der hatte ein bisschen Angst vor ihr. Aber der ist ein Hosenscheißer. Nein, anders: Der Wald ist dort manchmal wie unser Keller. Gruselig eben. Papa sagt immer, ich brauche keine Angst zu haben. Ich habe auch keine Angst vor Spinnen, ehrlich nicht. Aber einmal hat meine Schwester das Licht ausgemacht, als ich unten war, und da … also …«
Merle lächelte und strich Ronja über den Kopf. Im gleichen Moment erinnerte sie sich daran, dass sie selbst solche Gesten von Erwachsenen gehasst hatte. Björns Tochter dagegen schien es nichts auszumachen. Sie schaute Merle erwartungsvoll an.
»Ich verstehe schon, Ronja. Im Winter fand ich es manchmal gruselig. Und besonders im Herbst, wenn es früher dunkel wurde. Dann konnte der Bodennebel so komische Wirbel ziehen, als ob er lebendig wäre.« Sie senkte die Stimme und beugte sich vertraulich herab. »Dann war ich froh, wenn ich im Haus war und nicht mehr rausmusste. Nicht mal bis zur Scheune, um Holz zu holen. Aber Omi hat das immer verstanden und ist selbst gegangen.«
Ronja nickte eifrig. »Ist Luzi manchmal weggesprungen, als ob sie sich erschreckt?«
»Luzi? Lebt sie etwa noch? Die muss uralt sein!«
»Klar lebt sie noch. Die ist topfit!«
»Soll ich dir ein Geheimnis verraten?« Merle zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Den Namen Luzi habe ich ausgesucht.
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