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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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klang eher bedrohlich als nett. »Egal. Ist mir sowieso ein Rätsel, warum ihr die Alte noch da wohnen lassen habt, statt sie in ein Heim zu stecken. Da hätte sie nämlich hingehört. Ich kenn die Hütte nur von außen, aber wenn du meine ehrliche Meinung hören willst: Spreng das Teil.«
    Merle hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Sie räusperte sich. »Hör zu, es war eine bescheuerte Idee, überhaupt mit dir zu reden. Danke für deine ungefragte Meinung. Einen schönen Abend noch.« Und ein schönes Restleben! Warum war es ihr bisher eigentlich attraktiver erschienen, sich nicht von Michael zu trennen? Lieber einsam und verlassen, als ständig wie ein treuer alter Köter Tritt um Tritt zu kassieren.
    Zu müde, um wirklich wütend zu sein, steckte sie das Handy in die Tasche und zog stattdessen Omis Mappe hervor. Sie wollte sich lieber auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren, wie zum Beispiel ihr Familienerbe. Merle überflog die ersten Seiten. Erst jetzt erkannte sie, dass die eng getippten Zeilen in zwei Spalten aufgeteilt waren. Links stand die Übersetzung des lateinischen Textes und rechts die Interpretationen Professor Steiners. Auf den ersten Blick verstand sie von Steiners Anmerkungen überhaupt nichts. Also begann sie, sich auf die Übersetzung zu konzentrieren:
     
    Mitschrift von Bruder Bartholomäus, siebenter September
1647
im Jahre des Herrn; Kloster Unserer Lieben Frau zu Thierenbach.
    Es wird berichtet von der Aufnahme des Johannes, zu nennen Hans vom Wald, aus Steinberg in der Markgrafschaft Baden-Durlach. Er pilgerte bis in den Morgen des heutigen Tages ohne Pause zu unserer Wallfahrtskapelle, um Buße zu tun, so er glaubt, von einem Dämon besessen zu werden. Zustand entkräftet und verhärmt. Unsere Brüder setzten ihn eingehend der peinlichen Befragung aus. Der Dämon zeigte sich. Der Besessene Johannes flehte um Erlösung. Die Exorzierung erfolgte nach dem Rituale Romanum von
1614
.
    Hernach bat Johannes um Aufnahme in die Gemeinschaft. Diese wurde gewährt.
    Es folgt die Niederschrift des Geständnisses des Dämons.
     
    Merle grinste. Wenn Professor Steiner das bereits als angepasste Version bezeichnete, wollte sie das Original gar nicht erst lesen. Auch so fiel es ihr schwer genug, sich auf den Text zu konzentrieren, selbst wenn sie sonst täglich Juristen-Deutsch las. Die Wartehalle war überhitzt, es herrschte eine träge summende Atmosphäre. Merle streckte sich auf dem unbequemen Sitz und stellte den Wecker des Handys auf eine Stunde, falls sie die Ansage überhörte. Sicher war sicher.
     
    Der Vater des Hans, ein geachteter Holzhacker, brachte ein Mädchen aus dem Wald mit, als der Knabe etwa zehn Jahre alt war. Er gab an, das Kind allein im Wald gefunden zu haben. Es sprach nichts und zu niemandem. Es war scheu und verbarg sich sogleich hinter einem Schrank in der Stube. Einen jeden starrte es mit riesengroßen dunklen Augen an.
     
    Merle gähnte. Das klang nicht sehr dämonisch. Sie las die nächsten Seiten, ohne einen Satz bewusst aufzunehmen. Die Hand mit den Papieren sank wie von selbst in ihren Schoß. Im nächsten Augenblick war sie weggedöst.
    Irgendwo im Schwarzwald, Herbst 1598
    Wer bist du?« Vorsichtig kniete sich Hans vor das Mädchen und streckte zwei Finger aus. Sie rührte sich nicht, zuckte aber immerhin nicht zurück. So sanft wie einem frisch geschlüpften Küken in Mutters Hennenstall streichelte er ihr über den Unterarm. Sie trug nichts als ein grob gewebtes, viel zu kleines Kleidchen, unter dem sich schon zaghafte Rundungen abzeichneten. Dabei war sie ganz sicher nicht viel älter als Hans selbst. Freundlich wiederholte er seine Frage, aber sie antwortete nicht und starrte ihn nur mit großen schwarzen Augen an. Dieser merkwürdig eindringliche Blick wollte ebenfalls nicht recht zu dem jungen Gesicht passen. »Die Augen sind der Spiegel der Seele«, pflegte der Dorfpfarrer zu sagen. Wenn das so war, war die Seele dieses Mädchens rabenschwarz.
    Hans zog die Hand zurück und lächelte. Das Mädchen faszinierte ihn, und es kam ihm vor, als wollte es ihn zu etwas auffordern. Etwas Verbotenem. Dass er die meiste Zeit artig war, hieß noch lange nicht, dass verbotene Dinge keinen Reiz auf ihn ausübten. Sogar auf Adam und Eva hatte der Apfelbaum seinen Reiz ausgeübt. Der Pfarrer hatte gesagt, das sei das Werk des Teufels gewesen. Aber der riesige Höllendämon mit seinen Hörnern und Hufen konnte doch kaum in einem kleinen Mädchen stecken? Wie sollte er

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