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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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drehte sich der Fahrer jetzt zu ihr um. »Warum?« fragte er erstaunt. »Warum soll ich es ausmachen?«
    »Wissen Sie nicht, was heute für ein Tag ist?« fragte die Frau mit erstickter Stimme.
    In diesem Moment sah Hila die Frauen aus dem Viertel Beit Israel kommen und die breite Straße vor der langen Autoschlange überqueren, sie sah Männer in schwarzen Mänteln und mit gesenkten Köpfen zum Friedhof in Sanhedria eilen und rutschte unbehaglich hin und her, als spüre sie auf ihrer eigenen Haut die Last der Kaftane und den Schweiß, als ihr plötzlich einfiel, daß sie in Wahrheit Erlöste waren, auch wenn in ihren Gesichtern gar keine Erlösung zu sehen war, sondern Bitterkeit und drückende Last und Kummer und Tollheit.
    Zu diesem Zeitpunkt hatten sich schon zwei amerikanische Touristen, die wissen wollten, was los war, neben den Fahrersitz gedrängt und lauschten der Frau, die ihnen in fließendem Englisch erklärte, worum es ging, und ein großer Mann mit einem langen, breiten Bart, dessen Augen Blitze in Richtung des Fahrers schleuderten, sprach von Erlösung und von der Unsterblichkeit der Seele, fuchtelte mit seinen knochigen Armen zu dem nahen Friedhof hinüber und rief zur gegenseitigen Solidarität auf, bevor er einen jungen Mann mit hellen Haaren an den Schultern packte und schüttelte. Ein Pockennarbiger wurde fast auf den Fahrer geworfen, der wiederum schürzte die Oberlippe, zog seine graue Schirmmütze tiefer ins Gesicht und drehte das Radio sehr laut. Bässe und elektrische Gitarren dröhnten durch den Autobus, und die Lippen der weißhaarigen Frau begannen zu zittern. Links neben dem Bus, auf der Spur für Linksabbieger, dröhnte der Motor eines schwarzen Autos, auf dem mit weißen Buchstaben geschrieben stand: »Gerechtigkeit gehe Dir voraus«. Ein frommer junger Mann in Schwarz, der am Steuer des Autos der Chewra kadischa (Anm.: (hebr.): Beerdigungsgesellschaft in jüdischen Gemeinden. Es sind fromme Männer, die die Beerdigung übernehmen.) saß, hob den Kopf und hupte. Hila versuchte, sich zu erinnern, ob man sich an den Ohren ziehen mußte oder ob dreimal Spucken ausreichte. An den Ohrläppchen zupfen war möglich, mit einer Bewegung, als richte sie die Ohrringe, die sie nicht angelegt hatte; da war Spucken, ohne daß es jemand merkte, schon schwerer. Es ging nur, wenn man das Gesicht in beide Hände legte. Außerdem war es ohnehin schon zu spät. Seit über dreißig Jahren lag ihre Mutter schon in Sanhedria unter einem weißen Rosenstrauch. »Sie liegt nicht wirklich da«, hatte ihr Vater früher, als sie ein Kind war, gesagt und sich zu ihrem verweinten Gesicht hinuntergebeugt, wenn sie beide vor dem schwarzen Marmorstein standen. Er hatte seine große Hand auf ihre Schulter gelegt, mit der anderen hatte er zu dem blaugrauen Himmel hinaufgedeutet. »Was heißt das, in der Blüte ihrer Jahre?« hatte sie gefragt, als sie die Inschrift das erste Mal langsam gelesen hatte.
    Die Frau auf dem Nebensitz rückte wegen des Tumults um den Fahrer näher zu ihr, so nahe, daß sie einander fast berührten. Sie hatte ein Muttermal neben der Nasenwurzel, aus dem ein langes schwarzes Haar wuchs. Durch ihre enganliegenden Ärmel waren Grübchen am Ellenbogen zu sehen, und an ihrer blondgrauen Perücke rührte sich kein Haar. Ihre Hände lagen wie schützend auf dem Bauch, die Augen hielt sie gesenkt. Vermutlich der achte Monat, schätzte Hila, der Bauch ist noch hoch, und wenn man die ausgebreitete Hand drauflegt, kann man bestimmt die Bewegungen des Kindes fühlen. Sie selbst würde kein Kind mehr haben, ihr Bauch würde sich nicht mehr hin und her bewegen. Sie legte die Hand auf ihren Bauch. Dick und weich. Nie mehr würde darin ein Kind strampeln. Eine alte Frau wurde zum Vordersitz gedrängt und lehnte sich daran. Ein Knäuel von Menschen um sie herum schrie, und sie lächelte mit ihren Goldzähnen und hielt den Korb, den sie vorher auf dem Kopf getragen hatte, zwischen den Füßen fest. Aus dem Korb ragten Pfefferminzpflanzen, und ihr frischer Duft mischte sich mit der heißen, staubigen Luft.
    Hila verschränkte die Hände hinter dem Kopf, um das Geschrei nicht zu hören. Der Mann mit dem langen, breiten Bart hatte den Fahrer an den Schultern gepackt und schüttelte ihn hin und her, Trommelwirbel erfüllten den Bus. Hila selbst roch nicht nach Schweiß, aber unter den Achseln der Schwangeren waren große, feuchte Flecken. Hila hielt sich die Ohren zu und schloß die Augen, um die schmalen zittrigen

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