So habe ich es mir nicht vorgestellt
Lippen der weißhaarigen Frau und die Tränen, die ihr über die Wangen liefen, nicht mehr zu sehen. Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf die blitzenden Goldzähne der Araberin. Unter dem schwarzen Kleid mit roter Stickerei zeichneten sich ihre schweren, hängenden Brüste ab. Die amerikanischen Touristen bahnten sich einen Weg zum hinteren Ausgang. »Was wollen Sie denn von mir! Lassen Sie mich doch in Ruhe!« schrie der Hellhaarige, und zwei junge Männer schoben den Bärtigen auf den Fahrer zu. Jemand schrie einem kleinen Mann mit einer Kipa auf dem Kopf entgegen, was man den Griechen in Tripolis angetan habe, und schleuderte ihn auf den Sitz gegenüber.
Der Fahrer stellte den Motor ab und stand auf.
Hila wurde an das Fenster gedrückt und versuchte so zu tun, als wäre sie gar nicht da. Es war am besten, sich nicht einzumischen, und was konnte sie schon tun, wenn die Frau mit den weißen Haaren dastand und mit ihrer heiseren, atemlosen Stimme, die jeden Moment brechen konnte, schrie. Sie sollte wirklich aufhören, ihr Gesicht war schon ganz grau. Der Bärtige steckte sich eine Zigarette an und sagte zu dem Fahrer, der sich vor ihm aufbaute: »Na, wir werden ja sehen.«
Es war besser, sich nicht einzumischen. Aber warum schrie sie dann plötzlich: »Hier ist eine Schwangere!« und schlug auf den jungen pockennarbigen Mann ein, der blutend auf ihren Sitz sank und den Kopf gegen ihre Schultern fallen ließ? Sie stieß ihn gegen die Frau neben sich, deren Kopf zurückfiel, als sei sie ohnmächtig geworden. Auf einmal war Hilas Angst verschwunden, eine Angst, die sie immer packte, wenn sie unter vielen Menschen war und die Gefahr bestand, daß sie im Fall eines Brandes nicht schnell genug hinauskam. Als sie einmal mit Jo’ela im Theater gewesen war, war aus einem der Belüftungsschächte Rauch gekommen, und die Leute hatten sich zum Ausgang gedrängt, erst einzelne, dann ganze Massen. An der Tür stand ein ganzer Haufen Männer und Frauen in Abendkleidung, die sich gegenseitig stießen, erst wortlos, danach laut schreiend. Sie und Jo’ela waren sitzengeblieben, ohne es abgesprochen zu haben. Sie aus Angst davor, von der Menge zertrampelt zu werden, eine Angst, die sie auch packte, wenn sie an Demonstrationen der Linken teilnahm und Leute sich vorwärtsschoben und sie zu zertreten drohten. Jetzt war diese Angst plötzlich verschwunden, sie fühlte nur noch Zorn, als sie sich vor die schwangere Frau stellte und sie mit ihrem eigenen Körper schützte, sich gegen die Leute stemmte und die Schwangere zum Fenster schob, weiter weg von den Streitenden, wobei sie beruhigend auf sie einredete. Sie mischte sich ein! Und wie! Jemand zog sie an den Haaren, jemand stieß sie, ein harter Ellenbogen wurde ihr in die Seite gerammt, etwas gegen ihr Bein geschlagen. Der Fahrer beugte sich zu seinem Sitz und drückte auf einen Knopf. Die beiden Türen gingen auf, trotz der Menschen, die sich vor ihnen zusammendrängten. Von irgendwoher tauchte ein Polizist auf und schob die Araberin zur Seite, die mit beiden Händen den rechteckigen blauen Plastikkorb umklammerte und nicht mehr lächelte. Der Korb fiel ihr aus den Händen und wurde über den Boden des Autobusses gestoßen, der sich schnell mit dem Geruch nach Pfefferminz, Zitrone und Petersilie füllte. Die Araberin bückte sich, um ihre Sachen wieder einzusammeln. Der Polizist zerrte den Bärtigen, dessen Augen wie Murmeln glänzten, an den Schultern aus dem Autobus und kam in Begleitung eines zweiten Polizisten zurück.
Erst jetzt, als sie das keuchende Atmen der schwangeren Frau hörte und sah, wie sie ihren Bauch mit den Händen schützte, bemerkte Hila, daß der Fahrer das Radio ausgemacht hatte. Sie blickte in das blasse Gesicht und fragte die Frau schließlich, ob alles in Ordnung sei, und die Frau nickte und sagte: »Ja, Gott sei Dank.« Hila spürte einen kleinen Stich, daß die Frau ihren Schutz so selbstverständlich angenommen hatte. Sie atmete tief den Geruch nach Schweiß und Staub ein und hörte zerstreut dem Polizisten zu, der laut redete, sie betrachtete den Fahrer, der irgend etwas antwortete, und sah die alte Frau, die zum rückwärtigen Ausgang lief, und die beiden Jugendlichen. Jetzt erst bemerkte sie die dicke Beule an ihrem Arm, die breite Schramme, aus der Blut über ihr Bein lief. Plötzlich spürte sie auch, daß ihr das Knie weh tat, obwohl ihm äußerlich nichts anzusehen war, aber sie konnte sich den Bluterguß schon vorstellen, der
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