Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
bald entstehen würde, erst blau, dann schwärzlich und schließlich gelb.
    Im Autobus, der immer noch am Straßenrand stand, kurz hinter der Kreuzung Bar-Ilan, breitete sich Stille aus, als kämen die Leute langsam wieder zu sich und wollten vergessen, was geschehen war. Als wäre gar nichts passiert. Der Bärtige, die Frau mit den weißen Haaren und die beiden Jugendlichen hatten den Bus verlassen, auch andere stiegen aus. Hila blickte zu den Türen und stellte fest, daß ringsherum nur normale Fahrgäste saßen, einige hielten volle Plastiktüten auf dem Schoß, andere schauten aus dem Fenster, und alle taten, als wäre nichts passiert. Dabei waren sie noch vor wenigen Minuten bereit gewesen, sich gegenseitig umzubringen. Plötzlich war es möglich gewesen, das Radio auszumachen, plötzlich war es keine unwürdige Nachgiebigkeit mehr.
     
    Erst als Hila den Klopfer, eine kupferne Hand, auf die Tür fallenließ, machte Schula ihr auf. Hila selbst war es gewesen, die den Klopfer auf dem Bucharen-Markt gefunden und an dem Tag gebracht hatte, als die Familie in das Haus einzog. Arnon hatte die Hand aus dem dünnen Papier gewickelt, über das ganze Gesicht gelächelt und gesagt, es gebe viele Hände, aber diese sei besonders hübsch, so rundlich, und vielleicht bringe sie ja wirklich Glück, wie Hila behauptete, und dann hatte er sie gleich mit ein paar Hammerschlägen an der Tür befestigt, während Jo’ela noch zweifelnd den Kopf hin- und herbewegte und fragte: »Wollen wir wirklich eine Tür mit einem Klopfer? Was ist schlecht an einer normalen Klingel?«
    Hila betrat das Haus, und Schula drückte nun erst auf den Knopf des Staubsaugers und stellte den Lärm ab, der die Klingel übertönt hatte. »Gut, daß Sie gekommen sind«, verkündete sie. »Dann kann ich endlich gehen. Ich wollte sie in diesem Zustand nicht allein lassen.«
    »Was heißt das, in diesem Zustand?« erkundigte sich Hila.
    »Krank, mit Grippe, ohne daß ihr jemand Tee kocht oder was. Aber wenn Sie da sind, bin ich beruhigt.«
    »Hat sie Grippe?«
    »Ich nehme es an«, meinte Schula, und die Flügel ihrer dünnen Adlernase blähten sich, als sie tief atmete, wie um ein Gähnen zu unterdrücken. Vorsichtig legte sie einen Finger auf das obere Augenlid und rieb sich das Auge an der Stelle, wo die drei Farbschichten zusammentrafen: das Weiß über dem Lidrand, darüber Grün und dann das Braun. Diese Art des Schminkens ließ ihre braunen Augen, die ansonsten normal und leicht hervorstehend waren, mandelförmig und geheimnisvoll aussehen.
    »Warum gehen Sie nicht ans Telefon?« fragte Hila, und Schula verzog die Lippen, die sehr blaß aussahen wegen des weißen Lippenstifts und der dunklen Umrandung, die sich im Weiß verwischte. Den Konturstrich hatte ihr Hila vor Jahren beigebracht, der weiße Lippenstift hingegen entsprang ihrer eigenen Initiative. Der Mund verlieh ihrem schmalen, langen Gesicht einen schmollenden Ausdruck, der aber verschwand, als Hila fortfuhr: »Pnina hat gesagt, sie habe versucht anzurufen.«
    »Ich bin noch gar nicht lange hier«, verteidigte sich Schula. »Das Telefon war ausgesteckt, da habe ich es so gelassen.«
    Dann fuhr sie sich mit den Fingern durch die langen glatten Haare und fragte: »Was wollte sie denn?«
    »Sie macht sich Sorgen.«
    »Na gut, es war aber ausgesteckt. Was kann ich da machen?«
    »Nach so vielen Jahren könnten Sie es allein wieder einstecken«, meinte Hila.
    Schula warf ihr einen Blick zu, dann beugte sie sich über den Staubsauger und begann, das Kabel aufzuwickeln. »Ich weiß nicht, was sie hat. Ich habe sie noch nie so gesehen«, sagte sie, als sie sich wieder aufrichtete und das Gerät zu dem weißen Wandschrank neben der Eingangstür zog.
    »Wen meinen Sie?« fragte Hila, um Zeit zu gewinnen.
    »Sie.« Schula deutete zum ersten Stock hinauf und schob den Staubsauger in den Schrank. »Nie. In den ganzen neun Jahren nicht.«
    »In welcher Hinsicht?« wollte Hila wissen.
    »In der Hinsicht, daß sie … daß sie nicht spricht, nichts sagt, nichts entscheidet, nicht herumläuft, daß ihr alles egal ist und daß sie, habe ich gestern gedacht, vielleicht sogar geweint hat.«
    »Geweint?«
    »Geweint. Wann haben Sie sie einmal weinen gesehen? Nur als ihr Vater gestorben ist. Und sogar da … Und ich bin sicher, daß ich sie gestern hinter der Tür, als ich ihr Tee bringen wollte … es waren da Geräusche. Und sie läßt mich auch nicht im Zimmer aufräumen. Schon seit zwei Tagen will ich

Weitere Kostenlose Bücher