So habe ich es mir nicht vorgestellt
sagen«,
meinte sie plötzlich.
Einen Moment war es still. Ja’ara lachte. Wie früher, als sie klein war und in den Hörer flüsterte: »Bringst du mir was mit?« Plötzlich sagte sie: »Gut, ich warte, bis du kommst. Wann wird das sein?« Auf einmal war es nicht mehr dringend. In anderthalb Jahren würde Ja’ara auch sechzehn sein. Sie hatte eine Gebärmutter. Und ihre Haut war im Winter rosafarben und im Sommer braun. Ein kräftiges Becken hatte sie auch. Aber das Mädchen? Was würde mit ihr an dem Tag geschehen, von dem die Mutter gesprochen hatte?
2. In der öffentlichen Bibliothek
Das Mädchen trägt ein dunkelblaues Wollkleid, auf dessen Vorderseite, über dem Herzen, zwei rote Rosen gestickt sind. Zu dem blauen Kleid, das sie am Abend über den Stuhl neben dem Bett gehängt hat, hat ihre Mutter noch einen dünnen rosafarbenen Pullover gelegt, der an den Armen juckt. Schon den ganzen Tag lang hat das Mädchen den Geruch nach feuchter Wolle und Naphthalin in der Nase. Auch ihr schwarzer Wollmantel strömt einen leichten Naphthalingeruch aus, obwohl es jetzt schon über einen Monat her ist, daß ihre Mutter ihn aus dem Karton oben im Kleiderschrank herausgeholt hat. Vor zwei Monaten ist sie acht geworden, und sie geht schon alleine in die Bücherei, die nach Chaim Nachman Bialik benannt ist.
Um fünf Uhr wird es langsam dunkel, und über der steilen Straße, die hinunter zum Platz führt, an dem die öffentliche Bücherei liegt, steigt Nebel auf. Wie Rauch wirbeln gelbe Lichtwolken aus den Straßenlaternen.
Bliebe sie stehen und machte die Gläser ihrer Brille mit dem rauhen, kratzigen Stoff ihres blauen Kleides sauber, setzte sie dann das Gestell auf und drückte es tiefer, näher an das Unterlid, so würde das Licht der Straßenlaternen schärfer, und eine klare Grenze würde Licht und Dunkelheit trennen. Aber sie will nicht auf den Zauber der Rauchflecken verzichten, die sich plötzlich an einem unbestimmten Ort mit dem Nebel mischen, sie will sich diese angenehme Verwirrung bewahren, die von diesen verschwimmenden Grenzen zwischen Licht und Dunkelheit herrühren.
Erst im letzten Sommer, kurz vor Schuljahresende, als die Krankenschwester der Schule bei allen Kindern der zweiten Klasse die Augen kontrollierte, hat sich herausgestellt, daß sie eine Brille braucht. Sie leide nicht nur an starker Kurzsichtigkeit, erklärte Doktor Kaplan, ihr Hausarzt in der Niederlassung der Krankenkasse in der Modi’instraße, das runde Mondgesicht über den Zettel gebeugt, den ihr die Schwester der Schule in die Hand gedrückt hat, sondern auch an starkem Astigmatismus. Ihre Mutter trägt eine Brille, und diese Worte, Kurzsichtigkeit und Astigmatismus, hat das Mädchen schon gehört, als ihre Mutter sich bei Frau Nissan entschuldigte, weil sie sie nicht gegrüßt hatte: sie habe sie nicht gesehen.
Schon oft hat ihre Mutter, wenn es im Kinosaal dunkel wurde, ihre Brille aus der schwarzen Krokodilledertasche geholt und das schwarze Gestell aufgeklappt. Einmal, in der Pause, als das Licht anging und sie die Brille noch nicht abgesetzt hatte, hat das Mädchen die Mutter angeschaut und war erschrocken, wie klein deren blaue Augen geworden waren und wie sie hinter den dicken Gläsern ihren alles sehenden Ausdruck verloren hatten. Sie war erleichtert, als ihre Mutter die Brille in das harte Plastiketui zurücksteckte und ihre Augen wieder so nackt waren wie sonst auch. Zwei Schuljahre hat das Mädchen hinter sich gebracht, ohne zu wissen, daß sie schlecht sah. Bis dahin hat sie geglaubt, das verschwommene Bild der Buchstaben an der Tafel, die weichen, unklaren Konturen ferner Gesichter und der Nebel über der ganzen Welt, auf allen Dingen und Landschaften, wäre das, was alle sehen. Sie hat geglaubt, daß nichts mit scharfen, klaren Konturen aufhört, sondern immer eins ins andere übergeht. Als habe kein Gegenstand je ein Ende, sondern verschmelze mit dem Anfang des anderen. Wenn sie im vierten Stock auf dem Balkon stand, an das Eisengitter gelehnt, das das steinerne Geländer erhöhte, waren die Dächer der Häuser weich und verschwommen, und sogar das Lebensmittelgeschäft von Kenrik sah aus – vor der Brille – wie eine Hütte im Wald. Und das kleine Haus der frommen Familie auf der anderen Straßenseite, hinter dem sich ein dorniges Feld mit einigen verstreuten Zitronen- und Orangenbäumen erstreckte – dieses Haus mit seinem Ziegeldach, aus dem manchmal Tauben herausflogen, und mit den krummen,
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