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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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trotzdem schon, daß sie gegen Abend wieder vor der hohen Theke stehen würde, hinter der Josef, der Bibliothekar, immer sitzt, unter dem großen Foto von Chaim Nachman Bialik, der mit geschlossenen Lippen lächelt. Josef, der Bibliothekar, trägt immer ein weißes Hemd. Im Sommer ist es kurzärmlig, und im Winter blitzen die langen Ärmel unter einem blauen Pullover heraus, zugeknöpft bis auf den letzten Knopf am Hals. Dort rollt sich der Kragen und verbirgt seinen hervorstehenden Adamsapfel, betont aber die krankhafte Blässe seines Gesichts.
    Unterwegs zur Bücherei muß das Mädchen das Buch schnell noch einmal durchblättern, um sich auf die Fragen vorzubereiten, die Josef stellen wird. Den Bibliothekar umgibt immer ein säuerlicher Geruch, der den berauschenden Duft nach Papier, nach geklebten Einbänden und dem Staub alter Bücher zerstört. Hast du es gelesen? wird er zweifelnd und tadelnd fragen. Jedesmal, wenn sie ihn um ein dickes Buch bittet, gibt er ihr ein dünnes. Nie erlaubt er ihr, selbst zu den Regalen zu gehen, er ist es, der die Bücher auswählt. Sie wagt es nie, etwas zu sagen, wenn er ihr ein Buch hinhält, das sie schon kennt, denn sie weiß, daß sich seine dicken Lippen, die immer trocken und verzerrt sind, zu einer Rüge öffnen würden, und sein Finger würde auf die Warteschlange hinter ihr deuten. Wenn sie am selben Tag wiederkommt, um das dünne Buch gegen ein anderes einzutauschen, betrachtet er sie mit gesenktem Kopf und fragt sie, was denn drin stehe. Wenn das Buch dick ist, fragt er am nächsten Tag nach den Namen der Hauptfiguren. Sie hat das deutliche Gefühl, daß ihr Unrecht angetan wird, aber sie kennt schon den Preis des Widerstands, und dieses Wissen lähmt sie. Würde sie ihm eine freche Antwort geben, bekäme sie kein Buch.
    Frau Desirée aus der privaten Leihbücherei neben ihrem Haus stellt ihr keine prüfenden Fragen und läßt sie manchmal das Buch sogar selbst aussuchen, aber nie gibt sie ihr an einem Tag ein zweites Buch. Und außerdem ist sie nicht besonders nett, vielleicht sogar verrückt. Man muß immer einige Male klingeln und klopfen, bis sie schimpfend die Tür aufmacht, und ihre Stimme klingt wütend, wenn sie das Mädchen in schlechtem Hebräisch anspricht. Wie bei Josef, dem Bibliothekar, zeigt sich in ihren Mundwinkeln weißlicher Schaum, wenn sie spricht, wobei sie ständig irgendwelche Wörter in einer fremden Sprache vor sich hin murmelt. Sie trägt meist ein geblümtes weites Kleid, das über dem dicken Bauch abgewetzt ist, und unter ihren weißen Löckchen flitzen kleine, mißtrauische Augen hinter dicken Brillengläsern hin und her. Die Gläser sind noch dicker als die des Mädchens. Obwohl das Mädchen schon seit über einem Jahr jeden Tag auf der Schwelle steht, verhält sich Frau Desirée immer so, als hätte sie sie nie gesehen, lächelt sie nie an und ermutigt sie nicht, wenn sie, manchmal, zu sagen wagt, das Buch sei besonders schön gewesen.
    Ihre große Schüchternheit verdeckt das, was alle – auch ihre Lehrerin und ihre Eltern – für freche Aufsässigkeit halten. Ihre Furchtsamkeit und ihr weiches Herz liefern sie ihnen immer wieder aus, so daß sie mit ihr tun können, was sie wollen, und dieses Bewußtsein macht sie schon im voraus zornig. Mit allen Kräften versucht sie, sie zu hassen und zu verachten und sich selbst einzuschärfen, nichts von ihnen zu erwarten. Aber manchmal kann sie sich nicht beherrschen und sagt in einer Art gefühlvollem Ausbruch, wie schön das Buch war. Dann hängt alles davon ab, was sie sagen. Würden sie sie, vielleicht sogar in warmem Ton, etwas fragen, spräche sie vielleicht sogar gern, doch es stellt sich immer wieder heraus, daß es keinen Sinn hat. Jedesmal, wenn sie ihre Vorsicht vergißt, wird sie von der kühlen Reaktion getroffen und schlägt sich tagelang mit dem Gefühl der Scham herum, was ihr dann wiederum zeigt, wie gut es ist, sich zu verstellen und zu beherrschen. Manchmal sagt sie etwas, um Frau Desirée zu gefallen, um den Rahmen der Anonymität zu sprengen, um nicht irgendein Kind zu sein, das gekommen ist, um sich ein Buch auszuleihen, manchmal hofft sie, daß Frau Desirée sie vielleicht nicht mehr so tadelnd anschaut, daß sie lächelt und aufhört, so zu tun, als sei sie nur eine von Dutzenden von Kindern und Erwachsenen, die jeden Tag kommen, daß sie endlich in den geheimen, intimen Bund aufgenommen wird, der, wie sie auf eine unbewußte Art bereits spürt, der große Lohn derer

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