So habe ich es mir nicht vorgestellt
»Möchten Sie, daß ich mit jeder, die hier leidet, mitweine?«
Auf der Schwesterntheke im Säuglingszimmer lagen Schokowürfel und kleine, bunte Bonbons. Gedankenlos nahm sich Jo’ela eines davon, und ebenso gedankenlos verließ sie das Säuglingszimmer. Weil sie in diesem Moment nicht an den Kreißsälen vorbeigehen wollte, stand sie plötzlich wieder vor den beiden frommen Schwestern. Die Ältere drückte die leere Plastiktüte zusammen, die Jüngere blickte Jo’ela entgegen, mit braunen, verträumten, seltsam jungen Augen unter der faltigen Stirn und der karierten Kopfbedeckung. Elf Enkel hatte sie schon, und eine Gebärmuttersenkung. In Jo’elas Kitteltasche meldete sich der Piepser, sie blieb an der Tür zu ihrem Zimmer stehen. Mit einem Kopfnicken bedeutete sie den beiden alten Frauen, ihr zu folgen. Während sie nach dem Telefon griff, lächelte sie die ältere Schwester an und machte eine Handbewegung zu den Stühlen. Doch die beiden blieben stehen.
»Jo’ela«, sagte Hila zwischen einem Schluchzer und dem nächsten. »Den ganzen Morgen habe ich … Jo’ela, ich bin sicher, daß es jetzt am oberen Gaumen ist, hinter den Zähnen. Ich bin ganz sicher.«
Die ältere Schwester gab der jüngeren ein Zeichen, sich zu setzen. Sie selbst blieb stehen. Jo’ela blätterte in den Papieren neben dem Telefon. »Was sollen wir tun?« fragte sie. Es war das dritte Mal an diesem Tag. In ihrem strengsten und geduldigsten Ton fuhr sie fort: »Du hast nichts, glaub mir. Es ist ein schöner Tag, es ist warm draußen, warum gehst du nicht ein bißchen aus dem Haus?«
Hila am anderen Ende weinte. »Ich weiß nicht, wohin, und ich weiß auch nicht, warum.«
»Hila, hör auf«, warnte Jo’ela. »Ich bin Ärztin, ich weiß Bescheid. Und ich sage dir, du sollst ein bißchen rausgehen.«
»Verstehst du denn nicht, oben am Gaumen, das ist nicht die Brust oder so was«, widersprach Hila.
»Gestern hast du eine Krankenschwester angerufen«, sagte Jo’ela, »gestern war es der Oberschenkel.«
»Das war nicht gestern«, protestierte Hila. »Das war vor einer Woche oder vielleicht noch länger. Und ich will lediglich von dir, daß du mir einen Termin bei einem Kieferchirurgen machst.«
»Das ist nicht nötig«, fauchte Jo’ela. »Ich sage dir, es ist nicht nötig. Du hast keinen Krebs. Nirgends. Gestern hier und heute dort. Wo wird er morgen auftauchen? Hör doch endlich auf.« Sie wurde immer ungeduldiger. »Kannst du nicht endlich damit aufhören? Ich habe hier jetzt …«
Man konnte förmlich hören, wie Hila die Ohren spitzte. Sie hatte aufgehört zu weinen, atmete schnell und aufgeregt. »Hast du dort eine, die einen hat?« fragte sie. »Hast du eine Kranke mit …«
»Ja«, antwortete Jo’ela, »richtig und unbehandelt.«
»Unbehandelt, das ist es. Wo?«
»Was heißt wo?«
»Wo hat sie ihn?«
Jo’ela blickte zu den alten Frauen hinüber. Die Ältere senkte die Augen und bewegte den Kopf hin und her. Sie zog die Lippen über die Zahnprothese, dann fuhr sie sich mit der Zunge durch den Mund und schmatzte leicht. Der Fleck erstreckte sich von der Stirn knapp neben der rechten Augenbraue bis fast zum Rand des schwarzen Kopftuchs. Jo’ela zweifelte nicht daran, daß es sich um ein Karzinom handelte. Zwei alte fromme Frauen mit Kopftüchern und schwarzen Strümpfen. Wie auf einem Bild von Breughel. Eine Alte, stehend, eine Alte, sitzend. »Alter« könnte man das Bild nennen oder »Zwei Schwestern« oder »Gebärmuttersenkung«
Die Jüngere lächelte sie an.
Jo’ela kämpfte mit sich, dann sagte sie in den Hörer: »Ich habe jetzt keine Zeit. Das kann alles warten, bis ich nach Hause komme.« Hila weinte. »Dusch dich, geh aus dem Haus, lies ein Buch. Geh ins Kino, zur Nachmittagsvorstellung. Wir reden später darüber.«
»Nur ein Chirurg, der …«
»Später«, sagte Jo’ela und legte sanft den Hörer auf. »Wenn jeder beschließen würde, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, wo kämen wir da hin?« murmelte sie der jüngeren Schwester zu, die mit beiden Händen den schweren Rock hob und zu dem Untersuchungsstuhl hinüberging.
Jo’ela trat zu der Älteren, richtete die Lampe auf sie und betrachtete den Fleck. »Das muß behandelt werden«, sagte sie, zornig, um ihr Erschrecken zu verbergen. »Sie sind es nämlich, die krank ist, nicht Ihre Schwester. Warum lassen Sie das nicht behandeln?«
Als höre sie das zum ersten Mal, als habe sie nie im Leben diese Frage beantwortet, sagte die Alte gutmütig:
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